München – Für das Interview sitzt Präsident Joe Biden vor einem Kamin im Weißen Haus. Hinter dem US-Demokraten prangt eine große USA-Fahne. Und wie fast immer blitzt die Flagge auch in ansteckbarer Miniaturform auf seinem Jackett.
Es ist Mitte September 2022 und der jüngste Skandal um den Ex-Präsidenten Donald Trump spaltet noch ein Stück mehr die Bevölkerung der nicht mehr so geeinten Vereinigten Staaten. In dem Fernsehinterview wird Biden nach den geheimen Dokumenten gefragt, die in Trumps privaten Anwesen Mar-a-Lago gefunden wurden. Seine Worte sind deutlich: „Wie kann jemand so unverantwortlich sein?“
Vier Monate später: Mitarbeiter finden in Joe Bidens ehemaligem Büro geheime Unterlagen aus seiner Zeit als Vize-Präsident. Bidens Worte aus dem Interview fallen ihm plötzlich vor die Füße. Braut sich jetzt derselbe Skandal mit einem anderen Protagonisten auf?
Ganz so identisch sind die beiden Fälle jedoch nicht. Biden zeigt sich „überrascht“ über den Fund. Mindestens zehn geheime Dokumente, teils mit höchster Geheimhaltungsstufe, sollen US-Medien zufolge in abgeschlossenen Schränken gefunden worden sein. Laut dem Sender CNN sind es Briefing-Unterlagen des US-Geheimdienstes über die Ukraine, den Iran und Großbritannien. Der US-Präsident verspricht „volle Kooperation“ bei den Ermittlungen. Seine Anwälte hätte die Unterlagen sofort dem Nationalarchiv übergeben.
Zum Vergleich: Trump kooperiert nicht. Er hält mindestens 325 Dokumente aus seiner Amtszeit wissentlich zurück. Nach Ermahnung und Vorladung rückt er häppchenweise die Papiere heraus. Bei einer Razzia in Trumps Privatanwesen in Florida stellt das FBI über 100 weitere Dokumente sicher – 54 geheime, 18 streng geheime. Laut der „Washington Post“ handeln diese vertraulichen Papiere von der Geheimdienstarbeit über China und dem iranischen Raketenprogramm. „Im Gegensatz zu Trump liegt bei Bidens’ Dokumentenfund kein Verdacht einer Strafhandlung vor“, sagt Laura von Daniels von der Stiftung Wissenschaft und Politik unserer Zeitung.
Nichtsdestotrotz ist für Bidens Gegner der Aktenfund „sicherlich ein gefundenes Fressen“, sagt von Daniels. Und diese reagieren prompt: „Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen“, poltert der republikanische Parlamentarier Don Bacon. Trump spottet: „Wann wird das FBI eine Razzia in den vielen Wohnungen von Joe Biden durchführen, vielleicht sogar im Weißen Haus?“
Besonders der Zeitpunkt sorgt für Furore. Bidens Anwälte sind am 2. November auf die Akten gestoßen – sechs Tage vor den US-Zwischenwahlen. Doch erst Anfang dieser Woche wird der Fund öffentlich. Ronna McDaniel, Vorsitzende der Demokraten, fragt auf Twitter: „Warum erfahren wir erst jetzt davon?“ Das Justizministerium entgegnet: Es sei nicht üblich, öffentlich über Ermittlungen zu berichten.
Doch für Biden und seine Demokraten wird es brenzlig. Die neue Mehrheit der Republikaner im Repräsentantenhaus hat es ohnehin auf Biden abgesehen. Der Aktenfund könnte nun genutzt werden, „um Biden Verschleierung bis hin zu einer mutmaßlich absichtlichen Zerstörung von ,Beweisen’ vorzuwerfen“, erklärt von Daniels. LEONIE HUDELMAIER