Wieler verlässt die große Bühne

von Redaktion

VON MARC BEYER UND SEBASTIAN HORSCH

München – Die unverwechselbare Stimme bleibt diesmal stumm. Der Rheinländer Lothar Wieler, der in drei Corona-Jahren mit weichem Timbre viele unschöne Themen angesprochen hat, meldet sich gestern nur schriftlich. Das von ihm seit 2015 geführte Robert-Koch-Institut (RKI) und das Bundesgesundheitsministerium verbreiten die Meldung vom Abschied des Präsidenten. Zum 1. April wolle er sich „neuen Aufgaben in Forschung und Lehre“ widmen, informiert er. Es wird ein Rückzug in die zweite Reihe, raus aus dem grellen Scheinwerferlicht, in das die Umstände ihn im Frühjahr 2020 zwangen.

Die Pandemie hat einige Berühmtheiten hervorgebracht. Menschen, die als Experten auf ihrem Fachgebiet längst anerkannt waren, der breiten Masse aber verborgen blieben. Neben dem Virologen Christian Drosten war Wieler der wohl prominenteste. Aber auch, das brachten sein Posten und die belastende Situation mit sich, einer, der sehr bald besonders umstritten war.

Als RKI-Präsident war er in Corona-Fragen einer der zentralen Ratgeber der Bundesregierung. Im Politikbetrieb wurde Wieler (61), von Haus aus eigentlich Tiermediziner, gerade am Anfang hochgeschätzt, ein Teil der Öffentlichkeit war da doch kritischer. Für sie mutierte er im Laufe der Corona-Wellen und -Beschränkungen zu einem der größten Feindbilder und zum Gesicht all jener Verbote, mit denen die Bundesregierung die Ausbreitung des Virus einzudämmen versuchte. In einem Interview berichtete Wieler im Herbst 2021 von Morddrohungen, denen er deshalb ausgesetzt sei. Seine Pflicht werde er dennoch nicht vernachlässigen: „Solange ich Beamter dieses Staates bin, werde ich ihm verantwortungsvoll dienen.“

Korrekt und auf beinahe altmodische Weise aufrecht, so erlebte ihn auch die Öffentlichkeit. Auf dem Höhepunkt der Pandemie luden Wieler und der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) im Wochenrhythmus in die Bundespressekonferenz, um über die aktuelle Entwicklung zu informieren und – das war dann meistens Wielers Part – besondere Vorsicht anzumahnen. Später richtete sich dieser Appell dann auch ganz unverhohlen an jene Politiker, deren Einschätzungen in Wielers Augen dem Ernst der Lage nicht mehr gerecht wurden. In einer Videokonferenz mit Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) entfuhr ihm einmal, er könne es „schlichtweg nicht mehr ertragen, dass nicht erkannt wird, was ich sage“.

Die demonstrative Vorsicht in Corona-Fragen hätte ihn eigentlich mit Spahns Nachfolger Karl Lauterbach verbinden müssen, dennoch wurde schon bald offensichtlich, dass es im Verhältnis der beiden erheblich knirschte. Am deutlichsten traten die Differenzen vor fast genau einem Jahr zutage. Gleichsam über Nacht verkürzte das RKI den Genesenenstatus von sechs auf drei Monate – und sorgte bei Millionen Menschen für Konfusion, ob sie noch Restaurants, Kinos oder Friseursalons aufsuchen dürften. Der schwer verstimmte Lauterbach sprach von einer „Kommunikations-Fehlleistung“ –obwohl er die fachliche Einschätzung wohl durchaus teilte. Dass er sein Urteil ausgerechnet in einer Talkshow fällte, war kommunikativ aber auch nicht der beste Stil.

Lauterbach würdigt nun die „bleibenden und herausragenden Verdienste“ des Präsidenten: „Ohne Professor Wieler wäre Deutschland deutlich schlechter durch diese Pandemie gekommen.“ Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) sieht das Verhältnis dennoch „ein Stück weit zerrüttet“, wie er unserer Zeitung sagt. Er nennt Wieler einen „wichtigen Kompass in Zeiten, in denen Politik, Gesellschaft und Wirtschaft Orientierung gesucht haben“. Holetschek hätte sich gewünscht, dass Lauterbach weiterhin öffentlich auf Wielers Expertise zurückgegriffen hätte. Aber vielleicht ist auch das eine Botschaft, die dieser Rücktritt aussendet: Die Corona-Lage hat sich so beruhigt, dass sie keinen ständigen Mahner mehr braucht.

„Ein Stück weit zerrüttet“, stichelt Holetschek

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