Polen plant sein erstes AKW an der Ostsee

von Redaktion

Deutschlands Nachbar setzt beim Ausstieg aus der Kohle auf Atomkraft – mehrere Bundesländer sind alarmiert

Slajszewo – Große Vorratsgläser mit getrockneten Steinpilzen stehen auf dem grünen Kachelofen. Durch die bodentiefen Fenster ihres Esszimmers blickt Joanna Zwierzchowska auf die schneebedeckte pommersche Landschaft. „Dies ist meine Oase“, sagt die Geschäftsfrau, die in Danzig ein Reisebüro betreibt. Doch die Idylle ist gefährdet. Denn das Haus steht in Slajszewo, einem Dorf an der polnischen Ostseeküste. In der Nähe, gut 80 Kilometer nordwestlich von Danzig und etwa 300 Kilometer von der Grenze zu Deutschland, soll Polens erstes Atomkraftwerk gebaut werden. Nicht nur in der Region stößt das auf Widerstand. Auch in Deutschland verfolgt man die Pläne mit Sorge.

Anfang November hat Polens nationalkonservative PiS-Regierung dem US-Konzern Westinghouse den Zuschlag für den Bau des ersten AKW im Land gegeben. Die Baukosten sollen 18,6 Milliarden Euro betragen. Spätestens 2026 soll mit dem Bau des ersten Reaktorblocks begonnen werden, der 2033 ans Netz gehen soll, heißt es in dem 2021 vorgelegten Strategiepapier „Polens Energiepolitik bis 2040“, das nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs aktualisiert wurde. Alle zwei Jahre nach 2033 soll ein weiteres AKW den Dienst aufnehmen. Bis 2043 sollen es sechs werden, hinzu kommen könnten sogenannte kleine modulare Reaktoren.

Die Atomkraftwerke sollen Polen beim Ausstieg aus der Kohle helfen – gegenwärtig gewinnt das Land fast 80 Prozent seiner Energie aus Stein- und Braunkohle. Nicht nur die hohen Emissionswerte sind ein Problem. Nach Prognosen des staatlichen Geologischen Instituts reichen die Steinkohlevorhaben noch für 50 Jahre – bei der Braunkohle könnte schon in 20 Jahren Schluss sein.

Mit dem Ukraine-Krieg und der Energiekrise hat sich die Stimmung in der polnischen Gesellschaft gedreht. Noch im Juni 2021 waren 45 Prozent der Polen gegen Atomkraft, 39 dafür. In einer aktuellen Umfrage liegt der Anteil der Befürworter bei 75 Prozent.

Joanna Zwierzchowska lenkt ihren SUV über den Sandweg, der zum breiten Sandstrand von Slajszewo führt. „Das gesamte Ökosystem dieser Ostseeregion ist gefährdet“, sagt die Aktivistin, die in der Bürgerinitiative Ostsee-SOS gegen den geplanten Bau mobil macht. Groß ist der Protest nicht. Manche Bürger seien zwar dagegen, aber sie wollten keine Plakate aufhängen, sagt Zwierzchowska. Häufig würden Atomkraft-Gegner als „deutsche Agenten“ diffamiert.

Der Hinweis auf Deutschland kommt nicht von ungefähr: Die vier Bundesländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Berlin haben Polen aufgefordert, das Vorhaben zu stoppen. Sie verweisen auf Sicherheitsaspekte und die Atomunfälle von Tschernobyl und Fukushima.

Es wäre nicht Polens erster Versuch, in Ostseenähe ein Atomkraftwerk zu bauen. Nur 23 Kilometer von Slajszewo entfernt liegt Zarnowiec. Dort sollte in kommunistischer Zeit Polens erstes AKW entstehen. Heute ragt eine riesige Bauruine in den Himmel. Das in den 80er Jahren begonnene Prestige-Projekt wurde 1990 aufgegeben. Nach der Katastrophe von Tschernobyl wuchs auch in Polen der Widerstand gegen die Atomkraft. DORIS HEIMANN

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