China schrumpft

von Redaktion

VON ANDREAS LANDWEHR

Peking – China und Wachstum, das war lange untrennbar miteinander verbunden – ökonomisch und mit Blick auf die Bevölkerungszahl. Das Land wuchs und wuchs, sechs Jahrzehnte lang. Doch damit scheint Schluss zu sein: Laut Statistikamt lebten im vergangenen Jahr noch 1,411 Milliarden Menschen in China, rund 850 000 weniger als ein Jahr zuvor. China schrumpft. Experten sprechen von einem „Wendepunkt“ und warnen vor verheerenden Folgen einer „unvorstellbaren“ Bevölkerungskrise.

„Chinas demografische und wirtschaftliche Aussichten sind düsterer als erwartet“, meint der US-Sozialwissenschaftler Yi Fuxian von der Universität von Wisconsin. „China wird eine Schrumpfung durchlaufen müssen.“ Auch müsse es seine Sozial- und Wirtschaftspolitik ändern. Auf den Überschuss an Werktätigen, der Chinas Wirtschaftswunder angekurbelt hatte, folgt jetzt Arbeitskräftemangel im herstellenden Gewerbe: „Chinas Produktionssektor wird unterbesetzt und überaltern – und so schnell abnehmen wie der Japans“, so Yi Fuxian.

Es war der erste Bevölkerungsrückgang seit 1960 und 1961, berichtete das Statistik-amt. Damals waren in den Hungersnöten als Folge der irregeleiteten Industrialisierungskampagne des „Großen Sprungs nach vorn“ von Mao Tsetung viele Millionen Menschen ums Leben gekommen.

Die Geburtenrate lag 2022 nur noch bei 6,77 Neugeborenen auf 1000 Menschen – ein historischer Tiefpunkt. Erstmals in der Geschichte der Volksrepublik lag die Zahl der Geburten unter 10 Millionen. Nur 9,56 Millionen Babys wurden geboren, während 10,41 Millionen Menschen starben. Die Sterberate habe bei 7,37 auf 1000 Menschen gelegen. Damit ergebe sich ein Bevölkerungswachstum von minus 0,6 auf 1000 Menschen.

Der unabhängige Forscher Yi Fuxian, der seit Langem die chinesische Bevölkerungsentwicklung kritisch verfolgt, hält auch die jetzigen Zahlen für geschönt. Nach seinen Berechnungen schrumpft die chinesische Bevölkerung sogar schon seit vier Jahren. Immerhin sieht er ein offizielles Eingeständnis, dass der Rückgang rund zehn Jahre früher eingetreten ist als bisher von der Regierung vorhergesagt. Anders als bei den Hungersnöten 1960 und 1961 sei der Trend jetzt allerdings „unumkehrbar“, meint Yi Fuxian.

Unaufhaltsam gehen seit Jahren die Geburten zurück, während die Gesellschaft überaltert. Die Auswirkungen der seit 1979 verfolgten „Ein-Kind-Politik“ werden immer spürbarer. Die Aufhebung der umstrittenen Geburtenkontrolle führte 2016 nur kurzzeitig zu einem leichten Anstieg der Geburten. Nur ein Kind zu haben, ist in China heute die soziale Norm, es ist tief in der Gesellschaft verankert.

Daneben sehen Experten die hohen Kosten für Wohnraum, Bildung und Gesundheitsversorgung in China sowie die schwindende Bereitschaft zur Heirat als wesentliche Gründe für die Entwicklung. Die Corona-Pandemie und hohe Arbeitslosigkeit gerade unter jungen Menschen schufen weitere Unsicherheiten, die den Trend noch beschleunigt haben dürften.

Als Reaktion auf Geburtenrückgang und Überalterung wurden 2021 auch drei Kinder erlaubt. Außerdem bemüht sich die Regierung, jungen Paaren die Entscheidung für Kinder zu erleichtern. Die Kosten für Kindergärten und Schulen wurden gesenkt. Finanzhilfen wurden gewährt, Mutterschafts- und Elternurlaub erleichtert.

Die Folgen der Bevölkerungskrise für die Volkswirtschaft sind enorm. Schon länger müssen immer weniger Werktätige immer mehr alte Leute versorgen. Jeder fünfte Chinese ist heute älter als 60 Jahre. Forscher Yi Fuxian warnt: „Ohne soziales Netz, ohne die Sicherheit der Familie wird sich eine Rentenkrise zu einer humanitären Katastrophe entwickeln“.

Artikel 2 von 11