In der Ukraine drohen neue Offensiven

von Redaktion

VON ANDRÉ BALLIN UND ANDREAS STEIN

Moskau/Kiew – Der Kampf um die Ukraine ist in eine neue Phase eingetreten. Die Gefechte um die Kleinstädte Bachmut und Soledar im Norden des Gebiets Donezk sind die blutigsten Kämpfe seit Monaten. Mit massiver Wucht hat Russland die Front an dieser Stelle eingedrückt. Unterstützt vom massiven Feuer der Artillerie stürmen Infanteristen – zumeist ehemalige Strafgefangene, die von der Söldnertruppe Wagner angeworben wurden – die gut befestigten Verteidigungsanlagen der Ukrainer. Trotz hartnäckigem Widerstand rücken sie langsam, aber stetig Stellung um Stellung, Haus um Haus voran.

Genaue Zahlen gibt es nicht, doch beide Seiten sprechen von hohen Verlusten. Russland habe den Flecken zu einer „Hölle auf Erden“ verwandelt, klagt der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak. Laut Präsident Wolodymyr Selenskyj sind beide Städte völlig zerstört. „Es ist sehr schwer: Es sind dort kaum noch intakte Wände übrig.“

Nach den schmerzhaften Niederlagen im Herbst, als russische Truppen sich aus dem Gebiet Charkiw im Norden und später aus Cherson im Süden der Ukraine zurückziehen mussten, hat die Attacke auf Bachmut und Soledar dem Kreml wieder Oberwasser gesichert. Wie wichtig Moskau die verkündete Einnahme Soledars ist, lässt sich am erbitterten Streit ablesen zwischen Verteidigungsministerium und dem Finanzier der Wagner-Truppe, Jewgeni Prigoschin, wer sich den Erfolg ans Revers heften darf. Der Streit offenbart ein Kompetenzgerangel, das aus russischer Sicht bedenklich ist.

Militärisch ist die russische Einnahme Soledars, die Kiew weiterhin bestreitet, allenfalls ein taktischer Erfolg. Zwar gehört die Stadt, die vor dem Krieg etwas mehr als 10 000 Einwohner hatte, zum Festungswall, der östlich des Ballungsraums zwischen Slowjansk und Kramatorsk aufgebaut wurde. Doch auch dahinter gibt es noch weitere Abwehrlinien. „Die ukrainische Verteidigung bricht nicht zusammen“, meint der frühere russische Geheimdienstoffizier Igor Girkin, der unter dem Pseudonym Strelkow 2014 den Aufstand der Separatisten im Osten der Ukraine anführte.

Die kolportierte Forderung von Kremlchef Wladimir Putin an seinen neuen Oberbefehlshaber in der Ukraine, Waleri Gerassimow, den Donbass bis März einzunehmen, lässt sich nur mit frischen Kräften erreichen. Deshalb nehmen Spekulationen um eine neue Mobilmachung zu – trotz der fast täglichen Dementi aus dem Kreml.

Verhandlungen scheinen derzeit aussichtsloser als je zuvor. Von ihren politischen Zielen sind beide Seiten weit entfernt. Kiew will die Russen ganz aus dem eigenen Land vertreiben. Moskau beansprucht den Donbass und die im Herbst annektierten südukrainischen Gebiete Saporischschja und Cherson vollständig für sich, kontrolliert diese aber nur zum Teil.

Kiew gehen nach den massiven Verlusten um Soledar und Bachmut offenbar auch langsam die Soldaten aus. Die seit Kriegsbeginn laufende Mobilmachung wird allem Anschein nach intensiviert. Im Kiewer Stadtteil Holossijiw sollen sich bei Strafandrohung alle Männer im wehrfähigen Alter bis Monatsende beim Kreiswehrersatzamt melden. In sozialen Netzwerken machen Videos die Runde, wie auf den Straßen der Großstädte Odessa, Charkiw und Mykolajiw Vorladungen verteilt werden. Zugleich beteuert das Verteidigungsministerium beständig, dass es keinen Zusatzbedarf gebe.

Russland habe aufgrund seiner Größe einen Vorteil bei den menschlichen Ressourcen, sagt der ukrainische Militärexperte Oleh Schdanow. „Wir zermürben den Gegner und geben ihm keine Gelegenheit, Reserven zu bilden“, erklärt er das Ausharren der Ukrainer in Orten wie Bachmut. „Sobald wir genügend Kräfte für einen Gegenschlag gesammelt haben, wird der Generalstab die Gegenoffensive beginnen, dabei müssen die Verluste der russischen Armee maximal hoch gehalten werden“, so Schdanow.

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