Französische Arbeitnehmer lassen sich nichts gefallen. Das ist imponierend – gerade für Deutsche, die das „Sei-bloß-dankbar-für-deinen-Job“ derart verinnerlicht haben, dass sie Zumutungen oft achselzuckend hinnehmen. Aber aus dem Furor, mit dem Frankreichs Gewerkschaften seit Jahren gegen eine Rentenreform anrennen, spricht Ignoranz. Gerade gehen wieder Millionen auf die Straße, obwohl Präsident Macrons Pläne so moderat sind, dass ihm manch deutsche Linke dafür eine Ehrennadel anstecken würden.
Frankreichs Rentensystem gehört mit all seinen Sonderregeln und Privilegien zu den teuersten in Europa. Macron fragt sich zu Recht, wer das in einer alternden Gesellschaft mittelfristig bezahlen soll. Über die Finanzierungsfrage hinaus ist aber auch die Ungleichheit in Europa ein Thema. Dass französische Arbeitnehmer bei dem Gedanken an den Renteneintritt mit 64 (statt bisher 62) durchdrehen, während manche Ökonomen und Politiker in Deutschland schon auf die 70 schielen, ist eine Unwucht, die in einer solidarischen EU auf Dauer kaum funktionieren kann.
Macron nahm schon in seiner ersten Amtszeit einen (deutlich radikaleren) Reform-Anlauf, scheiterte aber am öffentlichen Widerstand. Jetzt muss er seine Light-Reform durchziehen. Der Prozess ist schwer, der Zeitpunkt wegen der Zumutungen durch Corona und Energiekosten schwierig zu vermitteln. Aber einer muss das verkrustete System aufbrechen. Es ist vielleicht Macrons letzte Chance dazu.
Marcus.Maeckler@ovb.net