München – Es ist Montag, 10.02 Uhr, im ehrwürdigen Gustav-Jahn-Saal des Bundesfinanzhofs in München, als ein Raunen durch die Reihen der rund 50 Besucher und Beobachter geht. Gerade hat der BFH-Präsident und Vorsitzende des IX. Senats, Hans-Josef Thesling, die Klage gegen den umstrittenen Soli abgeschmettert (AZ: IX R 15/29). Der Solidaritätszuschlag sei in der seit 2020 geltenden Form „nicht verfassungswidrig“, beschied Thesling.
Dabei hatte der Verlauf der Verhandlung zwei Wochen zuvor eher auf einen Erfolg der Kläger hingedeutet. Kaum eine Stunde hatte sich das höchste deutsche Gericht damals Zeit genommen – ohne eine einzige Frage zu stellen. Viele Beobachter hatten aus dem Kurz-und-Schmerzlos-Termin geschlossen, dass der fünfköpfige Senat die Soli-Klage wohl ans Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe weiterreichen würde.
Doch weit gefehlt. Bloße Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit reichten nicht aus, um den Fall – wie von den Klägern angestrebt – dem Verfassungsgericht zur Prüfung vorzulegen, resümierte Thesling trocken.
Konkret ging es in dem viel beachteten Verfahren vor dem höchsten deutschen Finanzgericht um die Klage eines älteren Paars aus Aschaffenburg. Die Eheleute hatten sich mit Unterstützung des Bundes der Steuerzahler gegen ein Urteil des Finanzgerichts Nürnberg zur Zahlung des Soli gewehrt und Revision beim BFH eingereicht. Nach ihrer Auffassung sei der Zweck des Soli – die Finanzierung der deutschen Einheit – spätestens mit dem Auslaufen des Solidarpakts II 2019 entfallen. Denn die Sonderfinanzierung der ostdeutschen Bundesländer gebe es seither nicht mehr. Zudem verstoße der Soli gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes, weil nur noch eine kleine Minderheit der Steuerzahler die Abgabe trage. Dem Charakter nach sei die Abgabe zu einer „Reichensteuer“ umfunktioniert worden.
Tatsächlich bleiben Arbeitnehmer mit der Anfang 2020 in Kraft getretenen Soli-Novelle bis zu einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 61 717 Euro komplett verschont. Oberhalb beginnt die „Milderungszone“. Dann steigt der Soli-Satz bis zum Höchstsatz von 5,5 Prozent bei einem Gehalt rund 96 400 Euro an. Bundesweit müssen laut Klägern noch rund 2,5 Millionen Menschen zahlen. Auf die Körperschaftsteuer, die GmbHs und Aktiengesellschaften zahlen müssen, wird der Soli auch weiterhin im vollen Umfang fällig.
Doch der fünfköpfige BFH-Senat folgte den Argumenten nicht. Der Soli sei nicht an den Solidarpakt gekoppelt. Der Bund habe dargelegt, dass es wegen der Wiedervereinigung weiterhin einen erhöhten Finanzbedarf gebe. Dies gelte etwa für die Rentenversicherung oder Leistungen am Arbeitsmarkt, urteilte das Gericht.
Unerheblich sei auch die Frage, ob die Ergänzungsabgabe ausschließlich und trennscharf für die neuen Länder verwendet werde. Das Geld komme in einen großen Topf. Bei der Mittelverwendung gestehen die Richter der Politik einen sehr großen Spielraum zu.
Die Regierungskoalition nimmt das BFH-Urteil überwiegend erleichtert auf. Zwar hatte sich die FDP um Finanzminister Christian Lindner als erbitterter Soli-Gegner positioniert. Zudem war das Ministerium dem Verfahren in München beigetreten, zog sich dann aber kurzfristig wieder zurück – offenbar auf Anweisung Lindners. Aber mit der Entscheidung hat die Koalition zumindest ein milliardenschweres Haushaltsrisiko weniger.
Vorerst zumindest. Denn die Richter haben dem Soli keinesfalls die vorbehaltlose Absolution erteilt. Der Aufbau Ost sei zweifellos eine Generationen-Aufgabe, urteilten die Richter. Dies umfasse 30 Jahre. Ursprünglich war der Soli 1995 eingeführt worden. 2025 wäre diese Marke erreicht. Der IX. Senat sieht die Ergänzungsabgabe daher als Auslaufmodell –- trotz des Urteils vom Montag. Das offenbart auch ein Blick in die Pressemitteilung. „Die Erhebung des Solidaritätszuschlags“, heißt es dort, „war 2020 und 2021 noch nicht“ verfassungswidrig.
„Spätestens im nächsten Jahr“ müsse die Regelung vom Bund daher überprüft werden, erläutert auch Gerichtssprecher Volker Pfirrmann gegenüber unserer Zeitung. Der Soli, resümiert der Finanzrichter ganz nüchtern, „kann so nicht ewig weitergehen“.