London – In der Schule hieße es: Versetzung gefährdet. Das Zwischenzeugnis für Rishi Sunak fällt äußerst kritisch aus. Seit 100 Tagen ist der britische Premierminister am heutigen Donnerstag im Amt. Doch statt des erhofften Befreiungsschlags stecken die Konservativen tief im Umfrageloch fest – und müssen mit neuen Negativ-Schlagzeilen kämpfen. Wegen einer Steueraffäre sah sich Regierungschef Sunak gezwungen, den Generalsekretär seiner Konservativen Partei, Nadhim Zahawi, zu entlassen.
Aus Sicht von Kritikern ließ der Premier die Affäre viel zu lange laufen, bis er handelte. „Die Rückkehr des Tory-Filzes“, titelte sogar die Zeitschrift „Spectator“, das Hausblatt der Konservativen. Oppositionschef Keir Starmer von der Labour-Partei lästerte über seinen Gegenspieler Sunak: „Fragt er sich langsam, ob dieser Job einfach zu groß für ihn ist?“ Dabei war der 42-Jährige angetreten, um nach skandalumwitterten Jahren unter Boris Johnson und Chaoswochen unter Liz Truss die Regierung endlich in ruhige Wasser zu lenken. „Integrität, Professionalität und Rechenschaftspflicht auf allen Ebenen“ kündigte Sunak an, als er am 25. Oktober in die Downing Street einzog – als dritter Premier binnen eines Jahres.
Der Auftakt galt durchaus als geglückt. „In seinen ersten drei Monaten als Premier hat sich Sunak stabiler und pragmatischer gezeigt als seine Vorgänger“, sagt der Politologe Mark Garnett von der Universität Lancaster. Gemeinsam mit Finanzminister Jeremy Hunt beruhigte er die Finanzmärkte, die von Truss’ erratischer Wirtschaftspolitik ins Chaos gestürzt waren.
Dass der Schatzkanzler – entgegen des konservativen Dogmas – dazu Steuererhöhungen ankündigte, schien wenig zu kümmern. Mit seinen Versprechen, die Schulden zu senken, Wartezeiten für Rettungswagen und in Notaufnahmen zu reduzieren und illegale Einreise zu stoppen, nahm der Neue wichtige konservative Sorgen ins Visier. „Insgesamt macht Rishi einen anständigen Job, und sein Austausch mit der Fraktion ist ziemlich gut“, zitierte der „Telegraph“ einen Tory-Abgeordneten.
Doch am Thema Integrität droht Sunak zu scheitern. Wieder erschüttern Skandale das Bild in der Öffentlichkeit. Einen „ernsthaften Bruch der ministeriellen Regeln“ stellte Sunak bei Kabinettsmitglied Zahawi im Entlassungsbrief fest. Vor Zahawi musste bereits Staatsminister Gavin Williamson seinen Hut nehmen, wegen Mobbingvorwürfen. Gegen Vizepremier Dominic Raab, der als engster Verbündeter Sunaks gilt, läuft aus den gleichen Gründen bereits eine Untersuchung. Er gilt als nächster Wackelkandidat. Innenministerin Suella Braverman wurde ins Kabinett berufen, obwohl sie nur eine Woche zuvor wegen des Bruchs von Sicherheitsvorschriften zurückgetreten war. Dass Sunak an Zahawi so lange festhielt und Braverman duldet, zeige, dass ihm seine hohen Standards weniger wichtiger seien, als seine Partei in Schach zu halten, kommentiert „Byline Times“-Korrespondent Adam Bienkov.
Und: Unter Sunak kommen die Konservativen nicht voran. In Umfragen erreichte Labour zuletzt Werte von fast 50 Prozent, die Tories dümpeln bei 20 – ein solches Ergebnis bei der nächstes Jahr geplanten Parlamentswahl würde die konservative Fraktion wegen des Mehrheitswahlverfahrens marginalisieren.
Dabei gilt der Premier beileibe nicht als Alleinschuldiger. Sunak habe eine äußerst schwierige Situation geerbt, sagt Politologe Garnett. „Er hat genug getan, das darauf hinweist, dass er unter den richtigen Umständen und mit fähigen Kollegen ein erfolgreicher Premierminister hätte werden können“, sagt der Experte. „Aber für das Land sieht es bestenfalls so aus, als wäre er der richtige Mann zur falschen Zeit.“ BENEDIKT IMHOF