Bidens Vorgeschmack auf 2024

von Redaktion

VON C. JACKE, J. NAUE UND M. TRÖNDLE

Washington – Joe Biden hat noch nicht verkündet, ob er 2024 für eine zweite Amtszeit antreten wird. Doch dieser Abend gibt einen Vorgeschmack, wie die Kampagne des US-Präsidenten aussehen könnte. Der Demokrat nutzt seine Rede zur Lage der Nation im Kongress für eine sehr nach innen gerichtete Ansprache an die Bevölkerung. Kaum Außenpolitik – ein paar Sätze zur Ukraine, ein paar zu China. Stattdessen viel Innenpolitik bis hin zu Kreditkartengebühren und Sitzplatzreservierungen für Familien in Flugzeugen. Biden gibt sich volksnah. Kann der älteste US-Präsident aller Zeiten wieder Enthusiasmus für ihn schaffen?

Eine Stunde und zwölf Minuten spult Biden ohne große Verhaspler bisherige politische Erfolge seiner Amtszeit ab: gewaltige Investitionen, Stabilisierung der Wirtschaft, Modernisierung der maroden Infrastruktur und Kampf gegen die Klimakrise. Ihm gehe es darum, den Menschen ihre Jobs, ihren Stolz und ihre Würde wiederzugeben, sagt Biden. Wirtschaftlich läuft es tatsächlich nicht übel in den USA. Die Arbeitslosigkeit ist auf dem tiefsten Stand seit mehr als 50 Jahren. Die hohe Inflation ist wieder auf dem Rückzug.

Nur: Die Bevölkerung schaut deutlich weniger enthusiastisch auf die vergangenen zwei Jahre zurück. In einer Umfrage von „Washington Post“ und „ABC“ gaben kürzlich 62 Prozent der Amerikaner an, Biden habe „nicht sehr viel“ beziehungsweise „wenig oder nichts“ erreicht. Sogar unter Demokraten gaben 58 Prozent an, dass sie 2024 lieber einen anderen Kandidaten hätten. Bei der Parteiprominenz ist die Begeisterung ebenfalls gebremst: Als Sprachregelung ist bislang von allen hochrangigen Demokraten zu hören, Biden müsse die Entscheidung über eine mögliche weitere Kandidatur selbst treffen. Und wenn er noch mal antreten wolle, dann stehe man hinter ihm. Enthusiasmus klingt anders. Manche Parteikollegen machen selbst öffentlich keinen Hehl daraus, dass sie sich einen jüngeren, dynamischeren Kandidaten wünschen würden.

„Ich habe für das Amt des Präsidenten kandidiert, um die Dinge grundlegend zu verändern, um sicherzustellen, dass die Wirtschaft für alle funktioniert“, sagt Biden. Er sei angetreten, um die Seele der Nation wiederherzustellen, das Rückgrat Amerikas, die Mittelschicht, wieder aufzubauen und das Land zu einen. Das alles wolle er „zu Ende bringen“. „Die Aufgabe zu Ende bringen“, das wiederholt Biden in der Rede immer wieder – auch und gerade im Appell an die Republikaner, ihm zumindest nicht im Weg zu stehen. Trotzdem: An Gesetzesvorhaben wird der Präsident in den nächsten Jahren bei den neuen Mehrheitsverhältnissen nicht viel zustande bringen können. Teile beider Parteien stehen sich feindlich gegenüber. Bidens Rede wird mehrfach von Zwischenrufen aus den Reihen der Republikaner begleitet. Eine meldet sich besonders oft zu Wort: die Rechtsaußen-Abgeordnete der Partei, Marjorie Taylor Greene. Einmal brüllt sie dem Präsidenten entgegen: „Lügner!“

Aber auch in seiner eigenen Partei gibt es Zweifel, ob Biden der richtige Mann für weitere vier Jahre ist. Biden hat ein Problem: Er kann inhaltlich abliefern, so viel er will – an jenem Punkt, an dem sich selbst ihm wohlgesinnte Parteikollegen stören, seinem Alter, kann er nichts ändern. Bei der Wahl 2024 wäre Biden 81, beim Start in eine zweite Amtszeit 82, am Ende seiner Präsidentschaft dann 86. Das ist schwer mit Botschaften von Aufbruch zu vereinen. Manche Parteilinke hatten sich „kühne und aufregende Visionen“ von Bidens Rede erhofft. Ob er sie überzeugt hat, muss sich erst noch zeigen.

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