Die Katastrophe, die sich in Syrien und der Türkei ereignet hat, macht noch immer sprachlos – und doch mischt sich in das Entsetzen zunehmend die Frage nach der Verantwortung. Dass die türkische Opposition auf Präsident Erdogan zeigt, mag aus der Ferne billig wirken; aber die Vorwürfe, die dem zugrunde liegen, sind ernst und könnten Erdogan vor der Wahl im Mai gefährlich werden.
Offenbar ignorierte die Regierung jahrelang die Warnungen von Geologen, ließ dort Gebäude und Infrastruktur entstehen, wo nichts stehen sollte, pamperte lieber die Erdogan nahestehende Bauwirtschaft, als Katastrophenprävention und -Vorsorge zu betreiben. Außerdem wird die Vermutung lauter, dass Milliarden-Summen aus einer eigens geschaffenen Erdbebensteuer in andere Kanäle flossen. Zusammen mit organisatorischen Fehlern in den ersten Stunden nach dem Unglück ergibt sich der Eindruck eines großflächigen politischen Versagens. Angesichts dessen wächst offenbar auch die Nervosität in Ankara: Erdogans Drohung, sich jene vorzuknöpfen, die es wagen, auf Fehler hinzuweisen, ist ebenso Hinweis darauf wie die Twitter-Einschränkung, von der Aktivisten berichten.
Die Tragödie, die Tausende das Leben kostete, wird unweigerlich Teil des Wahlkampfes werden und der Opposition womöglich jenes Mittel gegen Erdogan in die Hand geben, das sie bisher nicht fand. Sie wird zurecht fragen, wie es sein kann, dass Gebäude wie wackelige Kartenhäuser zusammenstürzen, obwohl Milliarden zur Verfügung standen, um sie erdbebensicher zu machen. Erdogan wird seinerseits versuchen, in die Rolle des Krisen-Managers zu schlüpfen und sie für sich zu nutzen. Die Frage ist, was im Mai – sollte es beim Wahltermin bleiben – schwerer wiegt. Für Erdogan steht mehr denn je auf dem Spiel.
Marcus.Maeckler@ovb.net