Streit vor Asyl-Gipfel: Österreich droht mit Veto

von Redaktion

„Das System ist zerrüttet“: Heute reden die Regierungschefs über Zäune, Zentren und staatliche Seenotretter

München – Der Kanzler findet klare Worte. „Leere Worthülsen werden nicht ausreichen“, sagt er über den Gipfel. Jetzt müssten „konkrete Schritte“ erfolgen. Andernfalls werde er die Beschlüsse in Brüssel nicht mittragen. Es ist eine ungewöhnlich deutliche Drohung, aber es ist ja auch der österreichische Kanzler. Per „Welt“-Interview macht Karl Nehammer (ÖVP) den Staats- und Regierungschefs der EU Druck, in der Migration Lösungen zu finden.

Heute und morgen kommen die Regierenden in Brüssel zusammen. Auf den Sondergipfel wird seit Wochen gewartet. Drastisch steigende Flüchtlingszahlen von über einer Million pro Jahr, Leid und Tod auf den Migrationsrouten – trotzdem ist der Kontinent uneins über die Lehren. Nehammer und seine konservative Regierung fordern eine härtere Gangart. Der Außengrenzschutz soll deutlich verstärkt werden, und dies mit EU-Millionen. Das kann auch heißen: Zäune und Mauern etwa an der Grenze zur Türkei.

Gemeinsam mit Dänemark, Estland, Litauen, Lettland, Malta, Griechenland und der Slowakei hat er einen Weckruf an die EU verfasst. Das Asylsystem sei „zerrüttet und es profitieren davon vor allem die zynischen Menschenschmuggler“. Die acht Staats- und Regierungschefs fordern „schnellstmöglich Fortschritte beim gesamten EU-Migrations- und Asylpakt und eine Revision des Schengen-Grenzcodes und eine Einigung auf Gesetzesvorhaben, die die Situation bei der Migration adressieren“. Die Runde hofft, Schweden, das aktuell die Ratspräsidentschaft innehat und ähnlich tickt, könnte eine Einigung beschleunigen. Unter anderem fordert Schweden viel mehr Druck der EU auf die Herkunftsländer, Migranten zurückzunehmen.

Aus den Kreisen der Christdemokraten, allen voran EVP-Chef und CSU-Vize Manfred Weber, kommen weitere Vorschläge: Asylverfahren in Nord- und Zentralafrika, dazu eine staatliche Seenotrettung im Mittelmeer, die nicht das Geschäft der Schleuser betreibt, sondern afrikanische Küsten ansteuert. Weber erneuert seine Warnung, die Strategie des Aussitzens sei gescheitert. „Die Aufnahmezentren sind voll, die EU-Staaten schlafwandeln in eine neue Migrationskrise.“

Was davon kommt, ist offen. Experten in Brüssel orakeln von Kompromissen: etwa hunderte Millionen Umschichten, um Geld für Zäune freizumachen, ohne dass die EU irgendeine Mauer direkt bezahlt. Rückführungsabkommen sollen eingefordert werden. Die Mitglieder sollen gedrängt werden, wirklich alle Flüchtlinge zu registrieren. Ungarn winkte absprachewidrig Zehntausende durch.

Wie sich Deutschland verhält, ist unklar. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagt bei einer Regierungserklärung am Mittwochmittag im Bundestag, nun sei „nach Jahren des Stillstands Fortschritt möglich in der europäischen Asylpolitik“ – das mit dem Stillstand ist auch ein kleiner Seitenhieb auf Ex-Innenminister Horst Seehofer (CSU). Scholz lobt Frontex und die gemeinsamen Grenzkontrollen mit Nicht-EU-Staaten. Es sei auch richtig gewesen, die Zusammenarbeit mit der Türkei in Flüchtlingsfragen fortzusetzen. Das gefällt vermutlich nicht allen in seiner Koalition. Er sagt aber, er sei „zuversichtlich, dass eine Reform des europäischen Asylsystems noch in der laufenden europäischen Legislaturperiode möglich ist“.

Der Kanzler betont im Bundestag auch die Bedeutung der Arbeitskräfte aus dem Ausland und erinnert daran, dass bereits 125 000 der geflüchteten Ukrainerinnen in Deutschland sozialversicherungspflichtig beschäftigt seien. Aber natürlich kennt er auch die Klagen aus den Kommunen – und seine Innenministerin Nancy Faeser muss in Hessen einen Wahlkampf bestehen. C. DEUTSCHLÄNDER, M. SCHIER

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