Türkei: Vorwürfe gegen Erdogan

von Redaktion

VON MAX WOCHINGER

Istanbul – Deprem ist das Wort, um das sich in der Türkei jedes Gespräch und jede Nachrichtensendung dreht. Es ist das türkische Wort für Erdbeben. Vier Tage sind seit dem schweren Beben in der Türkei und in Syrien mit mehr als 11 700 Toten vergangen, jetzt mischt sich zu deprem ein weiteres Wort: sorumluluk. Das heißt Verantwortung. Denn die Suche nach den Schuldigen für die Katastrophe hat längst begonnen. Im Zentrum der Kritik steht Präsident Recep Tayyip Erdogan (AKP).

Der türkische Machthaber reiste am Mittwoch in das Katastrophengebiet im Südosten des Landes. In Kahramanmaras, dem Epizentrum des Bebens, sicherte er den Opfern schnelle Hilfen zu. Sie sollen umgerechnet 500 Euro Soforthilfe bekommen. Einwohner, die wegen der Beben ihre Wohnung verloren haben, würden in Hotels untergebracht, so Erdogan. Bei seinem Auftritt hatte er auch Probleme bei den Hilfsmaßnahmen eingeräumt; in den vergangenen Tagen gab es immer wieder Klagen der Erdbebenopfer, dass die Unterstützung der Behörden zu langsam kommt. Zuvor hatte der Präsident in zehn türkischen Regionen den Notstand ausgerufen.

Erdogan war freilich nicht der einzige Politiker vor Ort. Am Dienstag war auch Kemal Kiliçdaroglu ins Erdbebengebiet gereist, der Chef der größten Oppositionspartei CHP. Er griff den Präsidenten stark an, warf ihm Versagen beim Krisen-Management vor. „Wenn jemand hauptverantwortlich für diesen Verlauf ist, dann ist es Erdogan“, sagte er. Der Präsident habe es versäumt, das Land in seiner 20-jährigen Regierungszeit auf solch ein Beben vorzubereiten.

Wie der Oppositionsführer sind nun viele Menschen wütend auf die AKP-Regierung. Auf Twitter werden regierungskritische Videos geteilt, etwa ein zwei Wochen altes Interview eines Bürgermeisters aus der Region Hatay. Darin sagt der Politiker, dass seine Stadt nicht auf ein Erdbeben vorbereitet sei – und seine Briefe an die Ministerien in Ankara nicht beantwortet würden. Nun sind große Teile der Region zerstört.

Die Bilder aus Hatay erinnern an das Beben von 1999. Damals ereignete sich in der westtürkischen Stadt Izmir eine der schwersten Naturkatastrophen in der Geschichte des Landes. 17 000 Menschen starben. Wie ist es möglich, dass sich die Tragödie nach über 20 Jahren wiederholt? Die Menschen hier können es nicht verstehen. Denn nach dem Beben von Izmir wurde das Katastrophen-Management in der Türkei massiv umgebaut. 2009 wurden die Schutzorganisation AFAD gegründet und Bauvorschriften verschärft, auch eine Erdbebenversicherungs-Pflicht für Immobilienbesitzer kam. De facto werden die Baugesetze aber oft nicht eingehalten.

Auch eine Art Erdbebensteuer gibt es seither; das Geld sollte verwendet werden, um Häuser erdbebensicherer zu machen. Sie gerät jetzt in den Fokus. Oppositionsführer Kiliçdaroglu warf Erdogan vor, sie für andere Zwecke verschwendet zu haben. Zudem tauchte ein Video des ehemaligen Finanzministers Mehmet Simsek von 2011 auf. Darin sagt er, dass das Geld aus der Erdbebensteuer in den Straßenbau, die Landwirtschaft und andere Projekte geflossen sei. Viele Türken fragen sich nun, warum ihr Steuergeld nicht da gelandet ist, wo es eigentlich hin sollte – etwa in verstärkte Gebäudefundamente in Gaziantep oder Adana. Teile dieser Städte sind völlig zerstört, Bewohner unter Trümmern begraben. Simsek war unter Erdogan Finanzminister, der Präsident trage die Verantwortung, sagen Gegner. Und Journalisten der kritischen Tageszeitung „Cumhuriyet“ machen seine AKP-Regierung für die Korruption haftbar.

Der Druck auf den Präsidenten steigt – nur drei Monate vor den Wahlen am 14. Mai. Erdogans Wiederwahl ist alles andere als sicher, seine Beliebtheitswerte sind wegen der hohen Inflation im Land stark geschrumpft. Mit außenpolitischen Erfolgen versuchte er, seine Umfragen aufzubessern, etwa als Vermittler zwischen Aggressor Russland und dem Westen.

Auf die Kritik nach der Erdbeben-Katastrophe reagiert der Machthaber auf seine Weise: Er hat vor der Verbreitung von „Fake News“ gewarnt. Kritik würde man sich merken und „das Notizbuch öffnen“, wenn der Tag dazu gekommen sei. Laut Internet-Aktivisten habe die Regierung zudem Twitter eingeschränkt. Tatsächlich war der Dienst ab Mittwochnachmittag nicht mehr zugänglich.

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