München – Seymour Hersh hat den Mächtigen in seiner langen Karriere schon oft Ärger gemacht. Ende der 1960er-Jahre deckte der Journalist ein US-Kriegsverbrechen im Vietnamkrieg auf und wurde berühmt. Es folgten viele Preise und Enthüllungen. Heute ist er 85 Jahre alt, sein Ruf hat wegen diverser umstrittener Artikel gelitten – trotzdem sorgt ein neuer Text für Wirbel.
Hersh behauptet zu wissen, wer hinter den Explosionen an den beiden Nord-Stream-Pipelines steckt. In einem langen Artikel auf seinem Blog erklärt er, US-Marinetaucher hätten im Juni 2022 – drei Monate vor den Detonationen – mit Unterstützung aus Norwegen Sprengsätze an den Gasröhren angebracht. Es habe sich um eine verdeckte Operation gehandelt, die vom Weißen Haus angeordnet und von der CIA geplant worden sei. Untersuchungen zu dem Fall deuten tatsächlich auf Sabotage hin – nur die Drahtzieher blieben bis dato unentdeckt.
Hersh unterstellt Washington ein klares Kalkül: Die US-Führung habe Moskau sein Druckmittel gegen Europa – besonders Berlin – nehmen und verhindern wollen, dass der Kreml seine Kriegskasse mit Gas-Einnahmen füllt. Man könnte einwenden, dass zum Zeitpunkt der Explosionen keine der beiden Pipelines in Betrieb war. Was seine weitreichende These aber angreifbarer macht: Der Journalist stützt sich nur auf eine anonyme Quelle, die angeblich „direkte Kenntnis von der operativen Planung“ hat.
Washington weist den Bericht als „eine vollkommene Erfindung“ zurück, auch Oslo nennt ihn „falsch“. Die russische Führung, die selbst verdächtigt wird, hinter den Sprengungen zu stecken, stürzt sich indes auf den Artikel. „Sie wissen, dass es auch von unserer Seite Erklärungen zu Informationen gab, die auf eine Beteiligung der Angelsachsen an der Organisation dieses Sabotageakts hindeuten“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow gestern. Es müsse nun eine internationale Aufklärung geben. AfD-Chef Tino Chrupalla forderte „Untersuchungsausschüsse“ im Bundestag. Hershs Verdacht müsse „unbedingt nachgegangen werden“.
Der Pulitzer-Preis-Träger Hersh hat in den vergangenen Jahren allerdings einiges dafür getan, seinen Status als Reporterlegende zu beschädigen. 2017 berichtete er etwa über einen US-Luftangriff in Syrien, der eine Reaktion auf den Einsatz von Giftgas durch das Assad-Regime war. Der Reporter behauptete, einen Einsatz von Giftgas habe es nie gegeben, wurde aber durch Untersuchungen der Organisation für das Verbot chemischer Waffen widerlegt. In einem anderen Artikel stellte er wilde Spekulationen zum Tod Osama bin Ladens an. In großen Medien, in denen er jahrelang publizierte, taucht er längst nicht mehr auf.
Dass die Amerikaner bis zuletzt Widerstand gegen Nord Stream 2 leisteten, ist bekannt. Im Februar 2022 sagte US-Präsident Joe Biden, sollte Russland die Ukraine angreifen, „dann wird es kein Nord Stream 2 mehr geben“, das verspreche er. Was Hersh nun als Indiz für die Stimmigkeit seiner These liest, halten andere für das Gegenteil. Joe Biden sei, was verdeckte Operationen angehe, „einer der vorsichtigsten US-Politiker“, twitterte der Terrorismus-Forscher Peter Neumann. „Und genau der entscheidet, einfach mal so die Pipeline eines Alliierten zu sprengen? Ohne Debatte? Und kündigt es auch noch öffentlich an?“ Das passe einfach nicht. M. MÄCKLER