München – Waffenlieferungen sind nötig, aber reichen nicht aus. Wolfgang Sporrer, der lange für die OSZE in Kiew arbeitete und zwischen Ukrainern und pro-russischen Separatisten vermittelte, plädiert für Verhandlungen im Ukraine-Krieg. Im Interview erklärt der Experte für Konfliktmanagement, wie das gehen soll, warum ein baldiger Waffenstillstand illusorisch ist – und was er von Sahra Wagenknechts Friedens-Manifest hält.
Herr Sporrer, ein Manifest fordert dieser Tage einen Stopp neuer Waffenlieferungen an Kiew und sofortige Verhandlungen. Haben Sie Sympathien dafür?
Der Aufruf ist ein klassischer Fall von: Gut ist das Gegenteil von gut gemeint. Deshalb habe ich ihn nicht unterzeichnet. Von der Zielrichtung her, so schnell wie möglich Deeskalation und Frieden zu erreichen, geht der Text in die richtige Richtung. Aber er verschreibt die falsche Medizin. Ein Stopp der Waffenlieferungen ist nicht das richtige Mittel, um schnell Frieden zu erreichen. Man würde Russland eher dazu bringen, die Ukraine auszubluten und den Krieg zu gewinnen, das wäre eine Katastrophe für ganz Europa.
Was wäre denn richtig?
Erst mal müssen wir die richtige Debatte führen, nämlich die über das Kriegsziel, das der Westen, besonders die USA, nie genau definiert hat. Die einen sagen, die Ukraine müsse den Krieg gewinnen, die anderen, sie dürfe ihn nicht verlieren. Dazwischen liegen Welten. Will ich die Ukraine so stärken, dass sich Russland klar wird, es kann nicht gewinnen, dann lassen sich Waffenlieferungen gut dosieren. Sage ich, die Ukraine muss so gewinnen, wie es sich die Regierung in Kiew vorstellt, nämlich auf ganzer Linie, braucht es eine ganz andere Unterstützung. Es gibt leider keinen Konsens darüber, wie weit der Westen gehen will.
Kiew und Moskau schließen Gespräche aus. Ist es nicht auch zynisch, angesichts russischer Kriegsverbrechen nach Verhandlungen zu rufen?
Moralisch mag das stimmen, aber ich glaube, das Problem liegt an anderer Stelle. Es gibt keinen prinzipiellen Unwillen, miteinander zu reden, sondern einen Unwillen, auf Vorbedingungen zu verzichten, und einen Unwillen, über politische Lösungen des Konfliktes zu verhandeln. Ich darf daran erinnern, dass beide Seiten unmögliche Vorbedingungen stellen: Die Ukraine verlangt eine vollkommene Entfernung der russischen Föderation von ihrem Territorium, Russland eine Anerkennung territorialer Gewinne. Beides wird nicht passieren.
Mit dem Unterschied, dass die Ukraine im Recht ist.
Moralisch betrachtet, mag die Ukraine mit ihren Vorbedingungen im Recht sein. Aber aus einer pragmatischen Perspektive sind die Bedingungen auf beiden Seiten unerfüllbar und einzig dazu gemacht, Verhandlungen zu verhindern.
Wie lässt sich denn dieser Knoten durchschlagen?
Zum jetzigen Zeitpunkt über einen großen Waffenstillstand und politische Lösungen zu reden, ist unrealistisch, zumindest, was Direktgespräche zwischen Russland und der Ukraine betrifft. Dazu glauben beide Seiten zu sehr, dass sie auf dem Schlachtfeld stärker werden. Ich plädiere dafür, erst einmal die Lücke zu schließen, die in allen Friedensforderungen kommt: Nämlich die, das Leiden der Menschen zu lindern. Meine Idee ist, Verhandlungen zu kleinen, konkreten Vorhaben zu führen und gangbare Schritte zu gehen. Das muss ohne Vorbedingung passieren. Und es braucht einen beiderseits anerkannten Mediator, am besten eine Person aus den Reihen der UN oder OSZE.
Worüber ließe sich denn sprechen?
Über alles, was im Interesse beider Seiten ist. Einen Waffenstillstand um das Atomkraftwerk in Sapporischschja zum Beispiel. Oder auch Deeskalationszonen im Umfeld von Spitälern, Schulen, Kindergärten und anderen humanitären Einrichtungen.
Die Russen würden behaupten, sie bombardierten ja gar keine Kliniken.
Sie sagen, dass sie diese Ziele nicht absichtlich bombardieren, was ich nicht kommentieren möchte. Aber wenn es so wäre, müsste es doch ein zusätzlicher Anreiz sein, unabsichtliche Bombardierungen durch Entflechtungszonen zu verunmöglichen. Wichtig ist: Wenn das funktioniert, kann man darauf aufbauen und die Verhandlungen ausweiten. Man könnte über komplette, aber temporäre Waffenstillstände zu Ostern oder Schulbeginn reden. Das sind kleine Schritte, die Leben retten.
Wo soll das Vertrauen herkommen?
Ich meine, dass kleine Einigungen dabei helfen, langsam, langsam wieder zu Recht verlorenes Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Russischen Föderation aufzubauen. Und: Ein solches Forum, bei dem auch der Westen, China und die Türkei als Beobachter dabei sein müssen, könnte als Instrument zur Verhinderung einer großen Eskalation dienen. Wenn wichtige Vertreter aller Seiten regelmäßig in einem Raum sitzen, wo sie sich Frustration, Vorwürfe, Drohungen an den Kopf werfen können, aber auch gemeinsam Kaffee trinken, ist das vertrauensbildend und verringert a priori das Eskalationspotenzial sehr stark.
Aber Putin will kein Kaffeekränzchen, sondern die Ukraine vernichten…
Die Russische Föderation hat wie der Westen kein genaues Kriegsziel definiert. Das ist offen und stark von der Entwicklung auf dem Schlachtfeld abhängig. Ich bin sicher, dass im Kreml diskutiert wird, wie man aus diesem Krieg herauskommen könnte, ohne einen riesigen strategischen Verlust zu erleiden. Für Putin ist die Sache eigentlich leicht. Vergessen wir nicht: Er dominiert die Medien und die öffentliche Meinung und kann im Grunde jedes Ergebnis des Krieges als Sieg verkaufen – wenn es nicht den völligen Verlust der Krim inklusive des Flottenstützpunktes Sewastopol beinhaltet.
Interview: Marcus Mäckler