Valetta/München – Der Bericht ist sehr nüchtern gehalten, aber die Zahlen haben es in sich. Auf zwölf Seiten listet die EU-Asylagentur „EUAA“ auf, wer vergangenes Jahr in Europa Schutz gesucht habe. 966 000 Anträge waren es in den 27 Mitgliedsländern, der Schweiz und Norwegen. Das sei die höchste Zahl seit 2016, schreiben die EU-Beamten, und ein Anstieg um 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die nationalen Aufnahmesysteme seien „unter beträchtlichem Druck“.
Die meisten Antragsteller kommen aus Syrien (132 000) und Afghanistan (129 000), ein starker Anstieg aus der Türkei (55 000), dazu in ähnlicher Größenordnung Venezuelaner und Kolumbianer, dazu je um die 30 000 Geflohene aus Pakistan, Bangladesh, Georgien und dem Irak. Auch die Zahlen der Menschen aus Indien und Burundi sind gestiegen, hier hatte Serbien die Visapflicht zwischenzeitlich ausgehebelt. Und auf insgesamt 59 000 Anträge kommen auch die nordafrikanischen Staaten Marokko, Tunesien und Ägypten.
Die Zahlen der EU-Agentur mit Sitz in Malta sind mit Vorsicht zu genießen. Die Asylagentur und die EU-Kommission gehen davon aus, dass viele Migranten Anträge in mehreren EU-Staaten stellen, um ihre Chancen zu erhöhen. Die Grenzschutzagentur Frontex hatte im vergangenen Jahr rund 330 000 irreguläre Ankünfte in der EU gezählt, also deutlich weniger – hier kommt aber wohl eine hohe Dunkelziffer drauf. Und all das wird um ein Vielfaches erhöht von den Zahlen der Ukrainer, die keinen Asylantrag stellen müssen. Rund vier Millionen Kriegsflüchtlinge hat die EU gezählt.
Trotz wackeliger Zahlen: Die politische Debatte auf dem Kontinent wird davon befeuert. Die Vorwürfe aus dem Süden – Italien, Griechenland, Spanien – werden lauter, mit dem Problem der Ankünfte allein gelassen zu werden. Gleichzeitig winken viele dieser Staaten (und auch Ungarn) die Ankömmlinge einfach unregistriert durch, auch das ein Rechtsbruch. Ein EU-Sondergipfel vor zwei Wochen hatte sich auf beschleunigte Abschiebungen sowie einen Ausbau von Befestigungen an den Außengrenzen mit EU-Mitteln geeinigt. Ob das Wirkung zeigt, ist noch nicht absehbar. Die Fluchtmotive – Hunger, Konflikte, Armut – bleiben ja.
Deutschland hatte im vergangenen Jahr 244 132 Asylanträge registriert; das sind Daten des Innenministeriums. Das war ein Anstieg um fast 28 Prozent im Vergleich zu 2021. Die meisten Antragsteller kamen auch hier aus Syrien und Afghanistan.
Die Debatte im Land nimmt an Schärfe zu. Vertreter mehrerer Bundesländer ärgern sich über den ergebnisarmen Flüchtlingsgipfel von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) vor knapp einer Woche in Berlin. Auch das Wort „Obergrenze“ fällt wieder, eine Erinnerung an die Debatten ab 2015/16. Der brandenburgische Innenminister Michael Stübgen (CDU) forderte eine Begrenzung der Zuwanderung. Man werde „an einer Migrationsbremse nicht vorbeikommen“, sagte Stübgen im Landtag in Potsdam. Das Aufnahmesystem sei am Limit. Es drohe ein „massives Integrationsversagen durch Überlastung“.
Auch aus Bayern wächst der Druck. Ministerpräsident Markus Söder brachte bei der CSU-Aschermittwochs-Kundgebung in Passau eine Ablösung von Innenministerin Faeser ins Gespräch, wenn diese nicht bald handle. Dann werde sie „die nächste Frau Lambrecht“, sagte er mit Blick auf die gestürzte Ex-Verteidigungsministerin. „Wir helfen gerne“, sagte Söder, man stehe auch zur Arbeitsmigration. „Aber wir spüren gerade, dass das alles an seine Grenzen stößt – an die Grenzen der Machbarkeit.“
FDP-Chef Christian Lindner forderte die Kollegen in der Bundesregierung derweil auf, die illegale Migration wirksamer zu unterbinden und konsequenter abzuschieben.