Kann die Ukraine bestehen?

von Redaktion

VON ANDRÉ BALLIN UND CARSTEN HOFFMANN

Kiew/Moskau – Viel präsentieren konnte Wladimir Putin den Russen in seiner Rede zur Lage der Nation nicht. Ein Jahr nach Beginn der Invasion ist Moskau von seinen Kriegszielen weit entfernt: Prahlte die Chefin des Propagandasenders RT, Margarita Simonjan, kurz vor dem Einmarsch noch, die Hauptstadt Kiew innerhalb von zwei Tagen einzunehmen, mühen sich russische Truppen nun seit einem halben Jahr um die Eroberung Bachmuts. Die Industriestadt ist zum Symbol für die Brutalität des Angriffskriegs geworden. Das einst schmucke Städtchen, das 70 000 Einwohner hatte, ist völlig zerstört. Ein Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj bezeichnete den Ort als „Hölle auf Erden“.

Täglich sterben in dem Inferno auf beiden Seiten hunderte Soldaten, wobei es sich auf russischer Seite zumeist um Söldner der Wagner-Einheit handelt. Deren größter Erfolg war die Einnahme der nördlich von Bachmut gelegenen Kleinstadt Soledar im Januar. Bei einem Verlust von Bachmut und wichtiger Straßenverbindungen müssten die ukrainischen Truppen wohl Gelände von bis zu 30 Kilometern aufgeben, sagt der deutsche Brigadegeneral Christian Freuding. Deswegen habe Bachmut eine rein taktische Bedeutung, sagt der Offizier, der den Sonderstab Ukraine im deutschen Verteidigungsministerium leitet.

Freuding koordiniert die Waffenhilfe für die Ukraine. Er sieht den Verteidigungskampf nun in einer schwierigen Phase. „Wir wissen auch, dass die Ukrainer nicht mehr in der Lage sind, ihre Verbände nur mit Freiwilligen aufzufrischen, sondern dass sie jetzt ganz gezielt Reservisten in unterschiedlichen Graduierungen einziehen. Das deutet darauf hin, dass sie derzeit unter Druck sind“, sagt er.

Die Verstärkung mit westlichen Panzern versetze die Ukrainer in die Lage, örtlich begrenzt Überlegenheit zu schaffen. Freuding: „Sie werden dann sowohl in der Verteidigung als auch im Angriff Erfolge erzielen können.“ Die Ukrainer hätten bewiesen, dass sie taktisch sehr geschickt vorgehen können.

Auf der Münchner Sicherheitskonferenz beschrieb der zugeschaltete Präsident Selenskyj den Kampf als David gegen Goliath. Der Kleinere nutzt geschickt die Steinschleuder gegen den halbblinden Riesen – und siegt. Es ist auch die Aufforderung, mehr und modernere Waffen aus dem Westen zu schicken.

Auf 200 westliche Schützen- und Kampfpanzer kann die Ukraine in einer ersten Phase hoffen. Die Ausbildungen laufen gerade in mehreren Staaten, auch in Deutschland. Die Waffen befähigen die Ukraine dann zu gezielten Vorstößen gegen russische Ziele. Das könnte auch die von Russland eroberte Landbrücke zur annektierten Halbinsel Krim sein.

„Ein westlicher Panzer besitzt den Wert von vier russischen Panzern. Das heißt, wenn ich eine Kompanie aus 14 deutschen Leopard 2A6 habe und damit auf ein russisches Panzerbataillon treffe, geht das mit 33 zerstörten russischen Panzern und einem beschädigten Leopard aus. Man konnte dies in beiden Golfkriegen beobachten“, sagte Militärexperte Thomas Theiner der „Welt“. „Die russischen Panzer des Irak haben nicht einen amerikanischen Abrams zerstört.“

Schon jetzt sind Spannungen auf russischer Seite zu beobachten. Der Wagner-Gründer Jewgeni Prigoschin warf dem Verteidigungsministerium eine „Munitionsblockade“ vor. Offenbar sind 30 000 bis 40 000 der wohl 50 000 russischen Häftlinge in den Wagner-Einheiten ausgefallen. Viele dienten als Kanonenfutter, um ukrainische Positionen aufzudecken. Insgesamt werden die russischen Verluste durch Gefallene und Verwundete an der russischen Front inzwischen auf rund 200 000 Soldaten geschätzt. Somit hat Russland trotz der von Putin im Herbst ausgerufenen Teilmobilmachung mit 300 000 Reservisten nach Ansicht vieler Militärexperten derzeit nicht die Stärke, um weitere größere Offensivaktionen zu starten.

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