Deutschland ein Jahr nach Kriegsbeginn

Noch immer ungläubig in der neuen Realität

von Redaktion

VON GEORG ANASTASIADIS

Das heilige Russland ist da, wo Russen leben. Wer das nicht akzeptiert, ist ein Faschist und muss ausgelöscht werden: Das ist, aller Lügen und Verdrehungen entkleidet, der Kern der Putin-Doktrin, so monströs und gewalttätig wie das Schlachtfeld, in das der Kreml seit einem Jahr die Ukraine verwandelt. Ohrenbetäubend war der Donner der Geschütze, mit dem die Europäer heute vor einem Jahr erwachten, „in einer neuen Realität“, wie es sogleich überall hieß. Doch bis zum heutigen Tag blickt Deutschland von allen europäischen Ländern am ungläubigsten auf das Meer von Blut und Tränen, in dem ein paar hundert Kilometer von seiner Ostgrenze entfernt unschuldige Ukrainerinnen und Ukrainer ertrinken – und sich ihren Mördern trotzdem unbeirrt entgegenstellen, statt um einen Frieden zu Putins Bedingungen zu betteln. Für die Freiheit zu kämpfen, erscheint vielen Deutschen wie eine altmodische Marotte.

Nun sollte man das seit der Zeitenwende-Rede des Bundeskanzlers Erreichte nicht kleinreden: Die alte Friedenspartei SPD hat ihre Bundeswehr-Phobie überwunden, die Grünen nehmen Kohlemeiler zurück ans Netz, die FDP macht hunderte Milliarden Schulden und nennt es stolz Sondervermögen, und alle gemeinsam schicken Kampfpanzer, wo es doch mit 5000 alten Helmen getan hätte sein sollen. Für die Nie-wieder-Krieg-Nation Deutschland ist das gewaltig – und doch war all das nur das viel zu späte Ankommen der deutschen Politik aus einer Traumwelt in einer Realität, in der die meisten anderen europäischen Länder schon lange lebten, als Angela Merkel mit dem Krim-Krieger Putin noch gierig Gasgeschäfte einfädelte.

Bis heute stolpert Berlin seiner selbst ausgerufenen Zeitenwende hinterher. Und vielen Bundesbürgern ist diese neue Realität längst schon wieder unbequem geworden. Sie glauben, den „Frieden ohne Waffen“ mit Pappschildern herbeidemonstrieren zu können, so wie morgen am Brandenburger Tor. Doch das wird nicht gelingen, nicht gegen einen Gegner mit dem Vernichtungswillen Putins. Der lässt seine prahlerischen TV-Propagandisten bereits mit dem Marsch auf Berlin drohen – auch da leben, nebenbei gesagt, ja nicht wenige Russen. Der eiskalte Machtmensch im Kreml wird erst dann verhandeln, wenn die Fortsetzung des Krieges für ihn militärisch und politisch teurer wird als seine Beendigung. Der Schlüssel dafür, dass die westliche Koalition hält oder zerbricht, liegt nach Putins Überzeugung in Deutschland, dessen Gesellschaft er für besonders leicht manipulierbar hält, auch wegen der langen Präsenz von Sowjettruppen in Ostdeutschland und der großen Zahl von Russlanddeutschen. Schon dass man in Berlin Gegenwehr gegen Putins Gaskrieg leistete, war für den Kreml ein Schock. Je weniger Zweifel die europäische Führungsmacht Deutschland lässt, dass nach dem Zivilisationsbruch ihr Platz unverrückbar an der Seite der heldenhaft kämpfenden Ukrainer ist, desto besser sind die Aussichten auf die Rückkehr des Friedens.

Georg.Anastasiadis@ovb.net

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