In Berlin demonstrieren sie für Frieden – doch Verhandlungen sind nicht in Sicht und Waffenlieferungen an die Ukraine bitter nötig. Das sagt Professor Klaus Gestwa (59), der an der Universität Tübingen das Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde leitet.
Wie geht es in der Ukraine weiter? Läuft nicht alles auf einen endlosen Stellungskrieg hinaus?
Ein Ende der Kriegshandlungen ist nicht in Sicht. Der russische Zermürbungskrieg wird sich 2023 fortsetzen. Seit Monaten können wir beobachten, dass Russland einen neuen Großangriff auf die Ostukraine vorbereitet. Diese Offensive gewinnt aktuell erheblich an Dynamik. Gerade um Bachmut herum hat sich ja schon so etwas wie ein Stellungskrieg entwickelt. Hier wirft die russische Seite bedenkenlos die Söldnertruppe Wagner mit ihren aus Gefängnissen rekrutierten Soldaten in den Fleischwolf des Kriegs. Es gibt Meldungen, dass bereits 95 Prozent der russischen Armee in der Ukraine sind und dass der Ukraine ebenfalls die Munition auszugehen droht.
Stimmen, die sagen, dass der Krieg militärisch nicht zu gewinnen ist, werden lauter. Wird’s zu Friedensverhandlungen kommen?
Eine solche Entwicklung ist nicht zu erkennen. Das hat Putin mit seiner Rede an die Nation noch einmal klargemacht. Der Kreml will nur Verhandlungen über eine Kapitulation oder Unterwerfung der Ukraine. Putin spricht der Ukraine die Daseinsberechtigung als eigenständiger Staat und europäische Nation immer noch ab. Er erhebt weiterhin Ansprüche auf große Teile der Ukraine und kann sich die Restukraine nur als einen von Moskau abhängigen Vasallenstaat vorstellen. Darauf kann sich die Ukraine unter keinen Umständen einlassen, weil das ihren Untergang als selbstständiges Staatswesen und europäische Nation bedeuten würde. Deshalb sehe ich gegenwärtig keine Möglichkeit, mit Russland ins Gespräch zu kommen.
In Deutschland ist es durchaus populär, der Ukraine zu empfehlen, Territorium gegen Frieden einzutauschen.
Putin die Ende September 2022 neu annektierten Gebiete zuzubilligen ist kein Ausweg. Zum einen wird sich die Ukraine nach den schrecklichen russischen Kriegsverbrechen nicht darauf einlassen können, die dort lebenden Millionen ukrainischer Bürger der brutalen russischen Besatzungsherrschaft zu überlassen. Zum anderen wäre ein derartiges Abkommen das komplett falsche Signal an die Welt des 21. Jahrhunderts. Es würde deutlich machen, dass sich Angriffskriege und Formen der nuklearen Erpressung lohnen. Nachahmer in anderen Regionen der Welt könnten schnell parat stehen. Ich denke vor allem an China in der Taiwan-Frage, aber auch an aufstrebende Mächte wie Saudi-Arabien oder den Iran. Ferner wissen wir nicht, was Nordkorea mit seinen Atomraketen vorhat. Wir müssen uns vor Augen führen, dass gegenwärtig mehr als nur die Ukraine auf dem Spiel steht.
Aber es ist doch unrealistisch zu glauben, dass es der Ukraine gelingt, Putins Armee komplett aus dem Land zu treiben, oder?
Die Ukraine versucht, dem russischen Großangriff standzuhalten. Bislang ist das halbwegs gelungen. Die ukrainischen Verbände haben sich in Bachmut eingegraben und werden nicht auf breiter Front zurückgeschlagen. Wenn bald die Leopard-Panzer an der Front ankommen, könnte die ukrainische Armee mit dieser Schlagkraft in der Lage sein, Vorstöße durch die russischen Linien Richtung Mariupol oder Krim zu wagen. Das würde das Kriegsgeschehen verändern. Fraglich bleibt aber, ob diese neue Kraft es ermöglicht, die Truppen vom ukrainischen Territorium zu vertreiben.
Also es geht einfach weiter, und wir wissen nicht, wie es enden soll?
Niemand kann sagen, wie dieser verdammte Krieg enden wird. Putin stellt seine Volkswirtschaft auf einen Zermürbungskrieg ein, um seinen Kriegstriumph unter allen Umständen zu erzwingen. In der Ukraine ist die Wehrhaftigkeit weiterhin sehr hoch, weil dort niemand Teil der russischen Welt werden will. Wir können also auf beiden Seiten gerade das Primat des Militärischen erkennen. Das führt dazu, dass sich das blutige Kriegsgeschehen in den nächsten Monaten mit noch gesteigerter Intensität fortsetzen wird.
Interview: Frank Lahme