Kiew – In Friedenszeiten dauert die Reise per Flugzeug gerade mal zwei Stunden 15 Minuten. Doch jetzt scheint Kiew von München eine Ewigkeit entfernt: Die Delegation des Europäischen Parlaments, mit der wir von München nach Kiew reisen, muss erst mit dem Flugzeug nach Warschau, dann mit dem Bus drei Stunden zur Grenzstadt Chelm. Und dort wartet heftig qualmend der weiß-blaue Zug, der den Chef der konservativen Parteien Europas (EVP), Manfred Weber (CSU), den hessischen Europaabgeordneten Michael Gahler (CDU) sowie Europaparlamentarier aus Lettland, Portugal und Rumänien nach Kiew bringt. Erst 24 Stunden nach dem Aufbruch in München kommen wir am frühen Morgen in Kiew an, der widerstandsfähigen Hauptstadt, die Wladimir Putins Truppen vor einem Jahr im „Blitzkrieg“ erobern wollten.
Es ist bereits der dritte Anlauf für diesen Besuch. Zweimal wurde Webers Reise im letzten Moment abgesagt, weil die Lage in Kiew zu gefährlich schien. Jetzt ist es in der Hauptstadt schon länger relativ ruhig. Aber die Ungewissheit, ob Putin die Zeit um den Jahrestag des Überfalls für neue Raketen- oder Drohnenangriffe auf Kiew nutzt, haben alle im Gepäck.
Der verschlafene Grenzort Chelm ist deshalb der Ausgangspunkt, weil hier die sicherste Bahnstrecke startet – wie bei der Sicherheitseinweisung vor der Einreise erklärt wird: Keine Großstadt wie Lwiw ist hier in der Nähe, die die Russen immer wieder mit Raketen attackieren. Wir werden gebeten, die Warn-App aufs Smartphone zu laden, die fast alle Ukrainer nutzen, da sie für den Alltag im Krieg lebenswichtig ist: Sie schlägt vor Luftschlägen Alarm. Deshalb muss das Handy auch im Hotel aufs Nachtkästchen, falls wir in den Schutzraum des Gebäudes müssen. Auf der Zugfahrt piepst die App bei Webers Mitarbeiterin lautstark – kurze Aufregung, denn im Zug könnten wir ja nirgendwohin fliehen. Aber glücklicherweise passiert nichts, der Alarm betraf wohl nur einen Ort entlang der Zugstrecke.
Diese Fahrt mit dem Nachtzug nach Kiew ist auch eine Reise aus dem in Deutschland so selbstverständlichen Gefühl der Sicherheit in den permanenten Ausnahmezustand des Krieges. Dabei hat dieser Zug, der schon so viele Politiker von Olaf Scholz bis Ursula von der Leyen zum Kriegs-Präsidenten Wolodymyr Selenskyj gebracht hat, eigentlich Orient-Express-Charme: Ein Kellner bringt Schwarztee in stilvoll verzierten Tassen ins gemütliche Abteil, die Daunenbetten des Schlafwagens sind weich. Aber die nächtliche Sorge, ob dieser Zug doch bombardiert werden könnte, wie zuvor schon etliche ukrainische Bahnhöfe, vertreibt jegliches Urlaubs-Wohlgefühl.
Beim Gespräch im schmalen Gang des Zuges erklärt Weber, was die Europaparlamentarier in Kiew wollen: „Zuallererst Respekt bekunden für den Mut, mit dem die Ukrainer unsere europäischen Werte verteidigen.“ Selenskyj habe bei seiner Rede vor dem EU-Parlament gesagt: „Sagt uns, sind wir willkommen?“ Weber und seine Begleiter wollen bei ihren Gesprächen mit den wichtigsten Figuren der ukrainischen Politik unterstreichen: Ja, ihr seid in Europa willkommen!
Wobei klar sei, dass eine Nachkriegs-Ukraine noch viele Veränderungen durchlaufen müsse. Der CDU-Abgeordnete Gahler nennt da eine von Kiew geplante Wahlrechts-Reform, die eine positive Wahlrechtsänderung rückgängig machen könnte und wieder zum Kaufen von Parlamentssitzen einladen könnte. Oder die aktuell vorangetriebene radikale Abholzung von eigentlich geschützten Wäldern in den Karpaten – Entwicklungen eines Landes unter Kriegsrecht, die belastend für die demokratische Zukunft der Ukraine seien. Der rumänische EU-Abgeordnete Marian-Jean Marinescu sieht auch im Umgang mit der russischen Minderheit eine problematische Entwicklung, was zwar angesichts des Krieges derzeit verständlich sein möge. Aber ein EU-Mitglied Ukraine nach dem Krieg werde selbstverständlich auch die Minderheitenrechte der Russen zu respektieren haben.
Doch noch ist all das Zukunftsträumerei, noch beherrscht der alltägliche Horror des russischen Tötens die ukrainische Gegenwart. Und so drehen sich auch die Gespräche der Europaabgeordneten in Kiew mit prominenten ukrainischen Politikern wie dem Ex-Präsidenten Petro Poroshenko und der Ex-Premierministerin Yulia Tymoshenko vor allem um Waffen- und Munitionslieferungen, die Option auf dauerhafte Sicherheit vor neuen russischen Angriffen durch die Nato-Mitgliedschaft – und humanitäre und finanzielle Hilfen. Die Besucher aus Brüssel haben 100 Stromgeneratoren für Kiew als Geschenk aus Italien im Gepäck, die sie dem Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko morgen überreichen wollen.
Im Nachtzug nach Kiew dabei ist auch die ukrainische Dolmetscherin Galina. Sie erzählt davon, wie sie nach Kriegsausbruch überzeugt gewesen sei, dass all ihre vielen russischen Verwandten und Freunde gegen Putin aufstehen würden. Sie würden doch nicht tatenlos zusehen, wenn Russen auf ihr „Brudervolk“ schießen! „Doch nichts geschah in Russland“, sagt Galina sichtlich verbittert. Nach dem Massaker von Butscha hat Galina, wie viele Ukrainer, alle ihre früheren Kontakte zu Russen abgebrochen. Die Zerstörungen in Butscha und Irpin werden Weber und seine Delegation in den nächsten Tagen mit eigenen Augen sehen. Wir werden darüber berichten.