München/Berlin – Einmal kommt in dieser ernsten Rede fast so etwas wie Heiterkeit auf. Olaf Scholz ist gerade dabei, die gestiegene Widerstandsfähigkeit des Landes zu loben, das Miteinander und die Ballung von Kräften, die sich im Lichte der von ihm vor einem Jahr ausgerufenen Zeitenwende so deutlich zeigten. Am sichtbarsten, findet der Kanzler, werde das, wenn man auf die Bundeswehr blicke. Ausgerechnet die Truppe, die seit Jahrzehnten unter Sparmaßnahmen ächzt? Aus den Reihen der Opposition ertönt höhnisches Gelächter.
„Ein Jahr Zeitenwende“ ist der Titel der Regierungserklärung, die Scholz gestern hält. Das Z-Wort prägt wie kein anderes seine bisherige Kanzlerschaft. Wie in einer rhetorischen Endlosschleife wird es seit zwölf Monaten bei jeder Gelegenheit strapaziert, und wenn es für die Regierung eine Art Siegel ist, das das Ausmaß der Umwälzungen ausdrückt, dann ist es für die Opposition inzwischen der wunde Punkt, an dem sie die Ampel piesacken kann. Die Union spricht jetzt von der „Zeitlupe“, weil sich die angekündigten Veränderungen so quälend lange hinzögen.
Während also Scholz das 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr als Beispiel für die Dynamik seiner Regierung darstellt, von der Einleitung wichtiger Beschaffungsverfahren berichtet und dass ein Großteil der Projekte bis Jahresende „unter Vertrag“ sein werde, klingt es bei CDU-Chef Friedrich Merz ganz anders. Von 100 Milliarden Euro seien erst schlappe 600 Millionen ausgegeben, weitere Bestellungen ließen auf sich warten. Was, fragt er, „ist eigentlich im zweiten Halbjahr 2022 geschehen?“. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt setzt wenig später nach, die Zeitenwende sei zwar das „Wort des Jahres“ gewesen. Sie hätte aber die „Tat des Jahres“ sein müssen. Als Beispiel nennt er ausgebliebene Materialbeschaffungen und unzureichende Verteidigungsausgaben im Bundeshaushalt.
Die Erwartungen sind hoch gewesen, als Scholz vor fast exakt einem Jahr seine heute berühmte Rede hielt. Und es war ja – zumindest verbal –auch ein fulminanter Start in eine neue Zeit. Aber in der politischen Realität ändern sich Dinge dann doch nicht so schnell, wie die Rede suggerierte, und im Verteidigungswesen, wo die Mühlen besonders gründlich mahlen, schon gar nicht. Die „Deutschland-Geschwindigkeit“, die Scholz auch gestern beschwört, beschränkt sich bisher weitgehend auf den Bau von LNG-Terminals.
Auf anderen Gebieten sind die Wege ungleich länger. Um Druck auf Russland auszuüben, hat der Kanzler zuletzt die Staatschefs von Brasilien und Indien besucht. Auch an die Adresse Chinas appelliert er: „Nutzen Sie den Einfluss auf Putin, um auf einen Rückzug zu drängen. Und liefern Sie keine Waffen an den Aggressor Russland!“
Scholz lässt wenig Zweifel daran, dass dieser Krieg so schnell nicht enden wird. Er betont die militärische Unterstützung seines Landes für die Ukraine, die sich bisher auf 14 Milliarden Euro belaufe, und kündigt eine Fortsetzung an, „so lange das nötig ist“. Eine Grundlage für Friedensverhandlungen sei aber noch nicht in Sicht, solange sich Moskau nicht bewege. Von den Ukrainern Zugeständnisse zu erwarten, lehnt er ab: „Mit der Waffe an der Schläfe lässt sich nicht verhandeln, außer über die eigene Unterwerfung.“
Er klingt an dieser Stelle ganz ähnlich wie Oppositionsführer Merz. Der sagt: „Wenn Russland heute die Waffen schweigen lässt, dann ist morgen der Krieg zu Ende.“ Lege die Ukraine jedoch die Waffen nieder, „dann ist morgen das ukrainische Volk und die Ukraine als Staat am Ende“.