München/Berlin – Mit Volksentscheiden kennen sie sich in Berlin aus, zumindest theoretisch. Im Herbst 2021 votierte eine Mehrheit in der Hauptstadt dafür, große Immobilienkonzerne mit mehr als 3000 Wohnungen in ihrem Besitz zu enteignen. Fast 60 Prozent Zustimmung gab es damals, doch 18 Monate später ist noch herzlich wenig passiert. Die rot-grün-rote Koalition konnte sich (bis auf die Linke) nie so richtig für den Plan erwärmen, viele im Senat sind skeptisch, und eine Expertenkommission kam nach langer Prüfung zu dem Ergebnis, grundsätzlich sei so eine Enteignung schon möglich. Es gebe aber noch viele offene Fragen.
Mittlerweile bahnt sich ein neues Bündnis an zwischen der SPD mit ihrer noch Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey (die nie enteignen wollte) und der CDU, die noch weniger von der Idee hält. Schon am Sonntag könnte nun eine weitere Herausforderung hinzukommen. Erneut steht ein Volksentscheid zur Abstimmung, diesmal zur Berliner Klimapolitik.
Das Ziel ist mehr als ehrgeizig. Schon 2030 solle die Hauptstadt klimaneutral sein, fordert die gleichnamige Initiative, also nur noch so viele Treibhausgase erzeugen, wie auch abgebaut werden können. In einem Zwischenschritt sollen die Emissionen bereits 2025 um 70 Prozent im Vergleich zu 1990 gesenkt werden. Die noch amtierende Regierung Giffey visiert die Klimaneutralität erst für 2045 an. „Das ist zu spät“, moniert „Berlin 2030 klimaneutral“ und strebt per Volksentscheid eine Änderung des Klimaschutz- und Energiewendegesetzes in der Stadt an. Ein Erfolg an der Urne wäre tatsächlich gleichbedeutend mit einem neuen gesetzlichen Rahmen.
Das ist der Unterschied zu dem auch schon radikalen Projekt „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“, das trotz satter Mehrheit immer noch im Räderwerk der Verwaltung eingeklemmt ist. Das Abgeordnetenhaus könnte per Mehrheitsentscheid das Gesetz zwar wieder verändern. Zunächst aber würde die Initiative Fakten schaffen und die Debatte um Klimawandel und -politik weiter befeuern.
Schon dieses Szenario hat bei den künftigen Koalitionären Wirkung hinterlassen. Vergangene Woche teilten Giffey und Berlins CDU-Chef Kai Wegner mit, man wolle im Falle einer Zusammenarbeit ein Sondervermögen für den Klimaschutz bereitstellen. Fünf Milliarden Euro sollen in den Topf. Das klingt nach viel, ist aber im Vergleich zum Projekt 2030 überschaubar. Dessen Kosten taxiert der Senat auf „mindestens in hoher zweistelliger Milliardenhöhe“.
Der Fünf-Milliarden-Vorstoß ist allgemein als Entgegenkommen der CDU interpretiert worden. Wegner spricht mittlerweile vom „Kernthema“ Klimaschutz. Das Geld soll in die Sanierung von Gebäuden fließen, in Energie- und Wärmeerzeugung, Mobilität und Verkehr. Letzteres ist ein Feld, auf dem die Christdemokraten mit Rot-Grün-Rot heillos über Kreuz lagen. Die SPD allerdings war mit den radikalsten Ideen der zuständigen grünen Senatorin Bettina Jarasch, bis hin zur Teilsperrung von Innenstadt-Straßen, auch nicht immer glücklich.
Von 2045 ist nun nicht mehr die Rede. „Frühestmöglich“ wolle man klimaneutral werden, heißt es von CDU und SPD. Der Initiative ist das zu wenig und zu vage. Sie verweist auf mehr als hundert Städte von Kopenhagen über Paris bis Rom, die sich schon auf den Weg gemacht hätten. Man müsse es halt auch wollen. MARC BEYER