WIE ICH ES SEHE

Krieg und Frieden – neu gelesen

von Redaktion

Tolstois großer Roman zu Napoleons Feldzug gegen Russland lässt sich nach dem Überfall Putins auf die Ukraine neu lesen. Geschichte wiederholt sich nicht, aber zu der Verblendung der Angreifer Napoleon wie Putin lassen sich leicht Parallelen ziehen.

Ich bin erst in der Mitte, bei dem Jahr 1812 des 1600 Seiten umfassenden Mammut-Werkes angekommen. Tolstoi schildert ein Gespräch des von Zar Alexander entsandten Generals Balaschew mit Napoleon, der mit seinen Truppen gerade den Grenzfluss Njemen überschritten hat. In Wilna übergibt ihm Balaschew einen Brief des Zaren mit dem Vorschlag zu Friedensverhandlungen, wenn Napoleon seine Truppen zurückzieht. Napoleon aber redet sich in Rage und lässt den Friedensgesandten von Zar Alexander nicht zu Wort kommen. Ebenso wie Putin heute entwickelt er sein ganz eigenes Weltbild.

Ein Rückzug aus Russland kommt überhaupt nicht in Frage. Russland sei der allein Schuldige an diesem Krieg. Alexander habe ein Bündnis mit England geschmiedet und alle Feinde Napoleons um sich versammelt. Die Stimme Bonapartes überschlägt sich, sein rechtes Bein überfällt ein Zittern. Er wünsche den Krieg nicht, habe ihn niemals gewünscht, aber der Krieg sei ihm aufgedrängt worden durch das Verhalten seiner Gegner.

Man meint, in dieser Rede Putin zu hören, der den Frieden liebt, aber die Ukraine überfallen musste. Die Nato, und insbesondere die USA, haben es dahin gebracht, dass Russland sich bedroht fühlen muss. So ist für Putin neben den angeblichen „Nazis“ in Kiew der gesamte Westen der Gegner, vor allem die USA. Ebenso wie es für Napoleon England war, das er trotz seiner Kontinentalsperre nicht in die Knie zwingen konnte.

Und ebenso wie Putin ist Napoleon ein Mann, dem das durch den Krieg verursachte Leid gleichgültig ist. Noch vor der Schlacht bei Leipzig 1813 erklärt er Metternich, der weiteres Blutvergießen verhindern möchte: „Ein Mann wie ich schert sich nicht um eine Million Tote“.

Einige Seiten weiter entwickelt Tolstoi ein Charakterbild der europäischen Völker. Auch das klingt auf uns Deutsche bezogen durchaus modern. Der Franzose sei selbstbewusst, weil er sich persönlich geistig für bezaubernd und unwiderstehlich halte. Beim Engländer fußt das Selbstbewusstsein laut Tolstoi auf der Tatsache, dass er ein Bürger des bestfundierten Staates der Welt ist, der immer weiß, was als Engländer zu tun ist. Das Selbstbewusstsein der Deutschen aber sei schlimmer, unwandelbarer und widerlicher als das der anderen, „weil sie sich einbilden, die Wahrheit zu kennen, und zwar in Gestalt einer Wissenschaft, die sie sich selber ausgedacht haben und nun für die reine Wahrheit halten“.

Fragt man heute auf den Wandelgängen der internationalen Politik nach Deutschland, dann hört man es nicht viel anders. Deutsche Rigidität und Gewissheit, die Welt retten zu müssen, steht unverändert gegen angelsächsischen Pragmatismus von Versuch und Irrtum, von leben und leben lassen.

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VON DIRK IPPEN

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