Finnland: Die neue Nato-Nordflanke

von Redaktion

VON STEFFEN TRUMPF

Vaalimaa – Die Gegend, in der die EU endet und Russland beginnt, ist eine schier endlose, von Schneemassen bedeckte Waldlandschaft. Straßenschilder warnen vor Elchen, vereinzelt stehen Holzhäuschen im Wald. Wo einst Grenzverkehr und -handel herrschte, entsteht im Osten Finnlands eine neue Nato-Nordflanke: Ungarn hat der finnischen Aufnahme in das Verteidigungsbündnis zugestimmt, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die zeitnahe Ratifizierung angekündigt – Finnlands Weg in die Nato scheint somit frei.

Mit dem Beitritt wird sich die Außengrenze des Verteidigungsbündnisses Richtung Russland mehr als verdoppeln: Zu den fast 1000 Grenzkilometern in den Nato-Staaten Estland, Lettland, Litauen und Polen sowie knapp 200 weiteren im hohen Norden Norwegens kommen nun satte 1340 Kilometer hinzu. Die Lebensrealität an der Grenze hat sich aber längst geändert.

Der Grenzübergang: Finnland hat Ende September 2022 die Grenze für russische Touristen geschlossen. Das bedeutet nicht, dass der Grenzverkehr gänzlich zum Erliegen gekommen ist – wer zum Beispiel enge Familienangehörige in Finnland besuchen möchte oder eine Aufenthaltserlaubnis hat, der kann den Schlagbaum von Russland aus nach wie vor passieren. Die Zahl der Grenzübertritte in beide Richtungen ist dennoch immens gesunken, wie sich am Grenzübergang Vaalimaa ganz im Südosten Finnlands zeigt: Am einst meistfrequentierten Grenzübergang zwischen der EU und Russland reisen werktags noch etwa 1500 bis 1600 Menschen ein oder aus, wie Markus Haapasaari vom Südostfinnischen Grenzschutz sagt. 2019 – im letzten vergleichbaren Jahr vor der Pandemie – waren es in etwa dreimal so viele gewesen wie heute. Russen kamen zum Shoppen in Finnland vorbei, Finnen fuhren gerne für einen Tagestrip hinüber nach St. Petersburg – mit dem Auto nur rund drei Stunden.

Das Einkaufszentrum: Dort, wo Russen einst in Vaalimaa zum Shoppen zu Gast waren, bedeckt nun eine dicke, unberührte Schneeschicht den verlassenen Parkplatz: Das Zsar Outlet Village hat kurz nach Schließung der Grenze für russische Touristen Insolvenz angemeldet. Die Pandemie hatte den Betreibern finanziell zugesetzt, die Tourismusbeschränkungen dem Einkaufsdorf offenbar den Rest gegeben. Nicht viel anders ist die Lage nebenan im zweiten Einkaufszentrum: Das Scandinavian Shopping Centre ist offen, die Restaurants sind an einem Werktag Ende März aber ebenso leer wie die Supermärkte.

Das Grenzland: In Lappeenranta, einer der größten Städte der Region, gehen die Menschen ihrem Alltag nach. Manche berichten, dass die anfängliche Angst nach dem Einmarsch in die Ukraine kleiner geworden ist. Russlands offenkundige militärische Probleme und der Nato-Beitritt geben Zuversicht.

Bald wird durch Teile dieser Region ein Grenzzaun gezogen. In Pelkola, gut 40 Autokilometer östlich von Lappeenranta, wurde vor einem Monat mit den Bauarbeiten für einen etwa drei Kilometer langen Pilotzaun begonnen. Bis 2025 soll der Großteil der Absperrung stehen – an strategisch wichtigen Punkten in der Nähe der Grenzübergänge. Rund 70 Kilometer. Auch wenn alle wissen, dass ein solcher Zaun russische Panzer nicht stoppen würde.

Die Hauptstadt: Helsinki ist eine sehr unaufgeregte Stadt, spürbar ruhiger als andere Hauptstädte, die Menschen sind reservierter. Trotzdem beziehen sie klar Stellung: Von der finnischen Staatskanzlei aus sieht man auf nahe gelegenen Gebäuden gleich vier Ukraine-Flaggen. Nach St. Petersburg fährt keiner mehr, auch die Zugverbindung wurde eingestellt –die letzte Direktverbindung von Russland in die EU.

Zugleich zeugen Architektur, Schilder oder Speisekarten davon, dass man in Helsinki Russland näher ist als in Stockholm oder Berlin. Was einen zu der schwierigen Frage bringt, ob es je wieder ein gescheites Nachbarschaftsverhältnis zwischen Finnen und Russen geben wird. Ist das Fenster Richtung Osten für immer verschlossen?

„Langfristig betrachtet ist das eine sehr entscheidende Frage“, sagt der Historiker Henrik Meinander von der Uni Helsinki. „Es wird viel Zeit brauchen, aber es ist notwendig, das Fenster eines Tages wieder zu öffnen.“ Für Finnland wäre es wünschenswert, wenn sich die Dinge normalisieren. Das aber kann dauern: „Ich denke, wir müssen darauf um die 20 Jahre warten – wenn es gut läuft.“

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