Helsinki – Nicht viele Menschen haben sich in der Vergangenheit für finnische Regierungschefs interessiert – dann kam Sanna Marin. Als junge, charismatische Ministerpräsidentin ist die Sozialdemokratin international zu einer der gefragtesten Politikerinnen der EU geworden. Dennoch ist offen, ob sie nach der am Sonntag anstehenden Parlamentswahl im Nato-Anwärterland Finnland weiterregieren kann. Gleich drei Parteien haben Chancen, stärkste Kraft zu werden.
Marins Sozialdemokraten, die konservative Nationale Sammlungspartei und die rechtspopulistische Partei „Die Finnen“ liegen in Umfragen fast gleichauf, mit minimalem Vorsprung für die Konservativen um Ex-Finanzminister Petteri Orpo. „Jeder von ihnen kann Erster werden“, sagt Politikwissenschaftler Juhana Aunesluoma von der Uni Helsinki. „Sie liegen so nahe beieinander, dass es unmöglich ist, das Ergebnis vorauszusagen.“
Schon bei der letzten Wahl 2019 hatte die drei Parteien weniger als ein Prozentpunkt getrennt. Die Sozialdemokraten hatten die Wahl damals unter Marins parteiinternem Vorgänger Antti Rinne knapp für sich entschieden. Rinne trat jedoch nach einem halben Jahr im Amt im Streit mit dem wichtigsten Koalitionspartner, der Zentrumspartei, zurück. Die aus fünf Parteien bestehende Mitte-links-Koalition blieb intakt. Angeführt wurde sie nun von der vorherigen Verkehrs- und Kommunikationsministerin Sanna Marin. Die damals jüngste Regierungschefin der Erde stand an der Spitze einer überwiegend von Frauen dominierten Regierung.
Marin, heute 37 und seit über drei Jahren Regierungschefin, hat Finnland seitdem durch eine aufreibende Zeit geführt. Erst kam Corona, dann der Ukraine-Krieg Russlands, an das Finnland auf satten 1340 Kilometern Länge grenzt. Infolge des Krieges entschloss sich Finnland, die Mitgliedschaft in der Nato zu beantragen. Nach dem Ja aus Ungarn am Montag und dem angekündigten Ja aus der Türkei befindet sich der Nato-Beitritt – nach jahrzehntelanger militärischer Bündnisfreiheit – auf der Zielgeraden.
Marin hatte zuletzt nochmals betont, Finnland habe in ihrer Amtszeit historische Entschlüsse getroffen. „Wir haben während der Amtszeit dieser Regierung außergewöhnliche Zeiten erlebt“, sagte sie. Trotzdem seien 90 Prozent der im Regierungsprogramm gesteckten Ziele erreicht worden. Politikprofessor Juhana Aunesluoma attestiert ihr gute Arbeit. „Das ist im Grunde drei Jahre lang Krisenmanagement gewesen. Die meisten Menschen in Finnland finden, dass die Regierung einen wirklich guten Job gemacht hat – besonders Sanna Marin persönlich“, sagt er. „Ihre Führung wird sehr geschätzt.“
Der Wahlkampf dominieren innenpolitische Themen: die Staatsfinanzen, Sozialleistungen, die älter werdende Bevölkerung, Gesundheit und Bildung. „Es ist im Grunde eine Wahl über den finnischen Wohlfahrtsstaat“, sagt Aunesluoma. Es gebe das Gefühl, dass dieses System strukturelle Probleme habe.
Für die Sozialdemokraten steht und fällt letztlich alles mit der Ministerpräsidentin: Marins Popularität sei deutlich höher als die der Sozialdemokraten an sich, sagt Aunesluoma. Diese Beliebtheit zeigt sich auch in den sozialen Medien. Auf Instagram kombiniert Marin Eindrücke aus dem Leben einer Politikerin mit Schnappschüssen aus dem Privaten, eine Million Menschen aus aller Welt sehen ihr dabei zu. „Ihr Insta-gram-Konto ist für Finnland wirklich einzigartig“, sagt die Social-Media-Expertin Essi Pöyry. Marin nutze die Plattform, um ihren Lifestyle zu zeigen und täglich positive Dinge zu kommunizieren.
Dennoch ist völlig offen, wie die künftige Regierung aussehen und wer sie anführen wird. Marin habe die Tür für eine Zusammenarbeit mit der Finnen-Partei zugestoßen, sagt der Ökonom und Wahlexperte Juha Tervala. Die Konservativen befänden sich dadurch in der angenehmen Lage, dass bei der Regierungsbildung an ihnen quasi kein Weg vorbeiführt.