München – Bevor es still wird um Boris Palmer, meldet er sich mit einem Gruß aus der Natur. Auf seiner Facebook-Seite postet er ein Bild, das neu gepflanzte Bäume auf dem Mittelstreifen einer Straße zeigt. An solchen Entwicklungen erfreue er sich, schreibt der Tübinger OB. Nächstes Jahr wolle man 100 neue Standorte für Straßenbäume einrichten. Palmer benutzt die Formulierung „wir“.
Solche Feinheiten sind wichtig. Wie es weitergeht mit Boris Palmer, beschäftigt die Menschen weit über die Grenzen der Universitätsstadt hinaus. Selbst für einen Mann wie ihn, der Gegenwind gewohnt ist, waren die Tage seit seinem verstörenden Auftritt in Frankfurt, als er das N-Wort aussprach und „Nazis raus“-Rufe mit dem Judenstern verglich, turbulent. Bevor er sich aus der Öffentlichkeit zurückzog, trat er bei den Grünen aus. Gestern früh ließ er sich dann krankschreiben. Seine ursprünglich „bis auf Weiteres“ angelegte Auszeit umreißt er am Nachmittag dann aber doch präziser. Im Juni werde er eine einmonatige Pause einlegen.
Im Rathaus muss man sich erst mal sortieren. Was der Schritt bedeute, darüber könne man noch keine Auskunft geben, sagt eine Sprecherin am Morgen. Palmer (50) ist seit 16 Jahren die Überfigur in Tübingen. Für eine Stadt dieser Größe ist der OB bundesweit ungewöhnlich bekannt, je nach Blickwinkel auch berüchtigt. Kommunalpolitisch hat er sich den Ruf eines Machers erworben, in der Pandemie schaute das Land fast bewundernd auf den pragmatischen Umgang mit Corona („Tübinger Modell“). Aber leicht war es mit ihm und seinen Provokationen nie.
In der Talkshow „Chez Krömer“ hat Palmer Ende 2020 zusammengefasst, was ihn antreibt: „Das Maul aufmachen, ist dann ein Problem, wenn man das sagt, was der andere nicht hören will. Und gerade dann muss man es tun.“ Er ist immer schon überzeugter Querkopf gewesen, buchstäblich von Haus aus.
In der Sendung war ein Ausschnitt zu sehen, der seinen Vater zeigt, wie er von Polizisten abgeführt wird. Helmut Palmer trat bei über 300 Wahlen an und trug den Beinamen „Remstal-Rebell“. Als Protest gegen den Umgang mit sich trat er, selbst Sohn eines Juden, auch mal in Häftlingskleidung und mit Judenstern auf. Wegen Beleidigung in mehr als einem Dutzend Fällen verbrachte der Bürgerrechtler mit Unterbrechungen rund ein Jahr in Haft.
Als Kind von sechs, sieben Jahren, erzählte Boris Palmer damals, habe er seinen Vater hinter Gittern besucht. In Stammheim, wo auch die RAF-Terroristen einsaßen. Der Kontakt habe sich auf „Handauflegen auf die Panzerglasscheibe“ beschränkt, mehr Nähe erlaubte die Justiz nicht. Er sei „mit großer Solidarität“ zum Vater aufgewachsen: „Ich war immer auf seiner Seite.“
Sich gegen Unrecht – oder das, was er dafür hält – aufzulehnen und für seine Überzeugungen einzustehen, ist immer ein zentraler Antrieb für Palmer gewesen. In Tübingen hat er sich damit viel Ansehen erworben. Die Ärztin Lisa Federle etwa hat während der Pandemie eng mit dem OB zusammengearbeitet. Auch wenn sie inhaltlich der Union näher steht, schätzt sie Palmer für seine Durchsetzungsfähigkeit. „Trotz aller berechtigter Kritik“ habe sie deshalb auch „Verständnis für ihn“. Mehr kann und darf sie zu Palmer nicht sagen. Sie ist nicht nur Mitstreiterin, sondern auch seine behandelnde Ärztin.
Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann nennt die Entwicklung „außerordentlich schmerzlich“. Bei allen Differenzen habe Palmer die Partei „über eine sehr lange Zeit streitbar bereichert“, nun sei „ein ziemliches Drama zu Ende gegangen“. Die Parteispitze hingegen nimmt den Schritt mit einer Nüchternheit hin, die wie Erleichterung wirkt. Parteichef Omid Nouripour sagt im ZDF, Palmers Schritt sei „respektabel, und ich wünsche ihm ein gutes Leben“. So klingt es, wenn es nichts mehr zu sagen gibt.