VON MARCUS MÄCKLER
Recep Tayyip Erdogan ist so lange an der Macht, dass es schwerfällt, sich vorzustellen, wie die Türkei ohne ihn aussähe. Würde sie, befreit von einem Bann, zur Demokratie zurückfinden? Würde sie berechenbarer werden, sich dem Westen wieder annähern? Kemal Kilicdaroglu, der Erdogan wirklich schlagen könnte, ist Projektionsfläche großer Hoffnungen. Innenpolitisch ist die Sache klar: Kilicdaroglu ist die letzte Chance des Landes, den Weg in die Autokratie zu verlassen. Außenpolitisch ist es komplizierter.
Gemessen an dem, was der 74-Jährige im Wahlkampf gesagt hat, würde er an vielen Stellen Erdogans Politik fortsetzen: Davon, die West-Sanktionen gegen Russland zu übernehmen, ist keine Rede. Das schwierige Verhältnis zum Nato-Partner Griechenland bliebe angespannt. Für uns zentral: Kilicdaroglu will sich den Flüchtlings-Deal vornehmen und Millionen von Syrern schnellstmöglich heimschicken. Forderungen nach (finanzieller) Hilfe würden nicht lange auf sich warten lassen. Aus EU-Sicht wäre er kein Kuschel-Präsident; aber einer, mit dem man – im Unterschied zu Erdogan – vernünftig reden könnte.
Keine Frage, im Sieg Kilicdaroglus läge die lang ersehnte Chance eines Neustarts in und mit der Türkei. Das wäre ein Segen, aber angesichts der Größe der Aufgaben und eines wackeligen Sechs-Parteien-Bündnisses kein Selbstläufer. Brüssel muss sich darauf einstellen, einen neuen Präsidenten nach Kräften zu unterstützen. Könnte Kilicdaroglu die Türkei aus den Fängen Erdogans befreien, hätte er jede Hilfe verdient.
Marcus.Maeckler@ovb.net