Recep Tayyip Erdogan muss in die Stichwahl – und hat doch schon gewonnen. Überraschend viele Türken haben für ihn gestimmt, wohl kaum seiner großen Erfolge wegen. Das Erdbeben-Versagen, die hohe Inflation, Korruption, die Verstümmelung des Rechtsstaats, all das ist ihm anzulasten, einem Mann mit viel Macht, aber versiegter Gestaltungskraft. Die Gründe für sein Abschneiden kann man in einer harten Angst-Kampagne gegen die Opposition suchen. Und darin, dass Erdogan die Wahl zur Identitätsfrage stilisiert hat: Echte Muslime wählen nur ihn. Gruselig, wie viele Deutschtürken sich einen starken Alleinherrscher in der zweiten Heimat wünschen.
Noch ist Herausforderer Kilicdaroglu nicht abgeschrieben, aber seine Chancen für die Stichwahl sind schlecht. Das ist erschütternd für ihn, der in aggressivem Klima versuchte, ein glaubwürdiges Gegenangebot zu machen. Es schadet aber vor allem dem Land selbst. Vielleicht zum letzten Mal bietet sich der Türkei die Gelegenheit, die Rutschbahn in den Autoritarismus zu verlassen. Die Sabotage einzelner Stimmauszählungen durch die AKP am Sonntag war nur das jüngste von vielen Anzeichen dafür, dass die Demokratie für die Clique um Erdogan nur noch Fassade ist. Um ihn zu besiegen, muss für Kilicdaroglu in zwei Wochen alles glatt laufen. Wahrscheinlicher ist, dass eine Mehrheit es anders will. Das ist ihr gutes Recht. Die Demokratie schafft sich manchmal einfach selbst ab.
Marcus.Maeckler@ovb.net