München/Istanbul – Auch am Dienstag wird noch weit in den Nachmittag hinein gezählt, bis das Ergebnis endgültig klar ist. Dann steht fest: Der Wahlkrimi in der Türkei wird in einer Stichwahl am 28. Mai entschieden – zum ersten Mal in der Geschichte des Landes. Denn weder Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan noch Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu haben es bei einer Wahlbeteiligung von rund 90 Prozent geschafft, am Sonntag mehr als 50 Prozent der Stimmen auf sich zu vereinen.
Wäre die Wahl allein in Deutschland entschieden worden, bräuchte es hingegen keine Stichwahl mehr. Denn bei der türkischen Wählerschaft hierzulande liegt Erdogan uneinholbar vorne. Knapp zwei Drittel der in Deutschland abgegebenen Stimmen entfielen auf ihn. Insgesamt aber verpasste der Präsident die absolute Mehrheit. Rund 49,51 Prozent wählten Erdogan. Kilicdaroglu erhielt 44,88 Prozent.
Ein Außenseiter könnte nun zum Königsmacher werden. Der Kandidat eines ultranationalistischen Parteienbündnisses, Sinan Ogan, wurde von gut fünf Prozent gewählt. Seine Anhänger könnten also in der Stichwahl sowohl Erdogan als auch Kilicdaroglu zum Triumph verhelfen. Ogan hat bereits angekündigt, eine Wahlempfehlung für Erdogan oder Kilicdaroglu nur gegen Zugeständnisse zu geben. Der Rechtsaußenkandidat wolle etwa eine Zusicherung, dass „Syrer und alle anderen Flüchtlinge“ die Türkei verlassen werden und zum „Kampf gegen den Terrorismus“, sagte Ogan der dpa.
Die Kandidaten zeigen sich derweil beide siegesgewiss. „Wenn unsere Nation eine zweite Runde will, dann werden wir die zweite Runde unbedingt gewinnen“, sagte Kilicdaroglu in der Nacht zum Montag. Mehr als 50 Prozent der Bevölkerung hätten den „Willen zur Veränderung“, gab er sich sicher. Erdogan verwies vor Anhängern in Ankara hingegen auf seine „klare Führung“. Seine islamisch-konservative AKP und ihre Bündnispartner behielten zudem ihre klare Mehrheit bei der gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahl.
Tatsächlich hat Erdogan besser abgeschnitten, als viele erwartet hatten. Obwohl sich sechs Parteien gegen Erdogan zusammentaten, konnten sie ihn zumindest im ersten Wahlgang nicht schlagen. Die prokurdische Oppositionspartei HDP, die Kilicdaroglu bei der Präsidentenwahl unterstützt, zeigte sich enttäuscht. Die Ergebnisse stünden noch nicht fest, „dennoch ist vollkommen klar, dass wir hinter unseren Zielen zurückliegen“, sagte Co-Parteichef Mithat Sancar.
Türkeiforscher Caner Aver sieht den Vorteil nun klar beim Amtsinhaber. „Ich glaube nicht, dass Gegenkandidat Kemal Kilicdaroglu noch eine realistische Chance hat“, sagt er. Denn Aver glaubt, dass sich die Wähler des Nationalisten Ogan mehrheitlich auf Erdogans Seite schlagen werden. An Kilicdaroglu störe viele von ihnen dessen Nähe zur Partei der Kurden sowie dessen Zugehörigkeit zur religiösen Minderheit der Aleviten. Gleichzeitig könnte ein Zugeständnis an Ogan Kilicdaroglu wiederum die ebenfalls wichtigen Stimmen der prokurdischen HDP kosten.
Dass die türkische Regierung viele Medien kontrolliert, dürfte Erdogan weitere Vorteile im Stichwahl-Rennen verschaffen. Schon vor der Wahl habe es keine gleichen Voraussetzungen gegeben, beklagt Frank Schwabe (SPD), Leiter der Wahlbeobachtungsmission des Europarats. Er sieht auch Mängel bei den Abläufen am Wahlabend. Bei der Auszählung habe es an Transparenz gefehlt, hieß es von der Delegation. Die Wahlbehörde solle klarstellen, wie sie Wahlergebnisse veröffentliche – auch ihr wird unterstellt, unter dem Einfluss der Regierung zu stehen.