Putins Angst vor dem eigenen Volk

von Redaktion

München – Nur wenige Deutsche kennen Wladimir Putin so gut wie er: Rüdiger von Fritsch war von 2014 bis 2019 Deutschlands Botschafter in Moskau, heute ist er Partner des geostrategischen Beratungsunternehmens „Berlin Global Advisors“. In seinem neuen Buch „Welt im Umbruch“ beschreibt der Diplomat unter anderem, wie das System Putin funktioniert.

Ihr neues Buch trägt den Untertitel: „Was kommt nach dem Krieg?“ Glauben Sie an ein zeitnahes Ende?

Derzeit ist schwer vorstellbar, dass dieser Krieg in näherer Zukunft zu Ende geht. Wladimir Putin ist grausam entschlossen, diesen Krieg mit allen Mitteln zu seinen Gunsten zu wenden, denn er kämpft in der Ukraine längst auch um seine Macht zu Hause. Zugleich besteht die Ukraine zu Recht darauf, sich nicht einem russischen Sieg-Diktat zu unterwerfen.

Wie heftig wird Putin auf die Attacken auf russischem Boden reagieren?

Putin hat diesen Krieg schon maximal konventionell eskaliert. Wenn er immer mal wieder von einer weiteren, auch nuklearen Eskalation raunt, setzt er trotzdem auf konventionelle Waffen. Deswegen glaube ich nicht, dass Putin, der die grausame Logik eines Atomwaffeneinsatzes kennt, als Reaktion auf diese Nadelstiche zu einer derartigen Eskalation greifen wird. Und wir dürfen nie die Verhältnismäßigkeit zum unendlichen Leid vergessen, das den Ukrainern tagtäglich durch Russland zugefügt wird.

Prigoschin, der rechte Blogger Igor Girkin, Kadyrow: Wie gefährlich ist die Kritik dieser Scharfmacher an der Kriegsführung für Putin?

Die Frage, die man sich stellen muss, ist doch: Warum dürfen die sich äußern? Für den Kreml wäre es ein Leichtes, sie abzuschalten. Das heißt: Ihre Äußerungen haben für den Kreml eine Funktion. Prigoschin soll bestimmte rechtsnationale Teile der russischen Gesellschaft bedienen, deren Wut auf die Militär-Führung und so die Verantwortung von Putin weglenken.

Wie bewerten Sie die Schließung der russischen Konsulate?

Die Schließungen sind eine richtige, legitime Reaktion auf die vergleichbaren russischen Maßnahmen. Moskau hat eine Obergrenze für Bundesbedienstete festgelegt, da ist es angemessen, auch der russischen Seite die Möglichkeiten in Deutschland entsprechend zu beschneiden.

Ist Putins Erzählung vom Verteidigungskampf gegen den dekadenten Westen erfolgreich?

Wladimir Putin hat die Begründung für den Angriff während des Krieges geändert. Anfangs ging es darum, die Ukraine von angeblichen Nazis zu befreien. Das hat zu Hause offensichtlich so wenig verfangen, dass er daraus eine Großerzählung gemacht hat, Russland werde bedroht. Und dazu behauptet er, Russland sei quasi der Hüter des Abendlandes. Inzwischen setzt er auf alle Emotionen. In einem Video, das Freiwillige für die Streitkräfte anwerben sollte, wird etwa an tiefste Macho-Gefühle appelliert – nach dem Motto: Wenn Du ein ganzer Mann bist, musst Du zur Armee. Da wird gar nicht mehr versucht, politisch mit der angeblichen Bedrohung Russlands zu argumentieren.

Was passiert, falls Putin aus Mangel an Soldaten zu einer weiteren großen Mobilmachung gezwungen sein sollte?

Es gibt in Russland einen ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag: Wir da oben regieren und ihr da unten haltet euch raus, denn davon versteht ihr nichts. Aber dafür versorgen wir euch und lassen euch in Ruhe. Diesen Gesellschaftsvertrag hat Putin durch die Mobilisierung im vergangenen Herbst gebrochen. Er lässt sie nicht mehr in Ruhe, das ist für Putin gefährlich. Nun muss er zumindest dafür sorgen, dass sich das Leben der Menschen nicht ständig verschlechtert. Er ist darauf angewiesen, sich ständig die Zustimmung der Bevölkerung zu kaufen. Durch unsere Sanktionen wird es für ihn immer schwieriger, sich diese Bestechung der Russen dauerhaft leisten zu können.

Interview: Klaus Rimpel

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