München/Kiew – Bevor die ukrainische Offensive auch offiziell begann, hatte die ukrainische Armee noch ein Video zur Gegenoffensive veröffentlicht, Soldaten unterschiedlicher Truppengattungen halten sich den Finger vor den Mund: Pssst. Die Botschaft des Videos: Wir bewahren Stillschweigen. Die Ukrainer zermürben die russischen Angreifer seit Wochen mit einer Verwirrtaktik: Angriffe auf russische Regionen wie Belgorod binden russische Kräfte, Gestern dann gab es Angriffe an unterschiedlichen Frontabschnitten.
Die ukrainische Vize-Verteidigungsministerin Hanna Malijar erklärte, das Gebiet rund um Bachmut bleibe „das Zentrum der Kämpfe“, und dort verzeichne die Ukraine Erfolge. Das russische Verteidigungsministerium behauptete hingegen, die Offensive vereitelt und mehr als 900 Ukrainer getötet zu haben. „Ziel des Gegners war, unsere Verteidigung an dem Teil der Front zu durchbrechen, der seiner Ansicht nach am verletzlichsten war“, so der Sprecher des Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow.
Doch der russische Feldkommandeur Alexander Chodakowski widersprach der Erfolgsmeldung seiner Führung. Bisher werde der Feind „von Erfolg begleitet“, so Chodakowski. „Traditionell den Funkverkehr störend, ist es dem Feind gelungen, uns in eine schwierige Lage zu bringen“, erklärte Chodakowski, der die Brigade Wostok der Separatisten im Donbass-Gebiet leitet. Die Ukraine versuche, die Schwachpunkte der Verteidigung zu erfassen. „Erstmals haben wir in unserem taktischen Raum Leoparden gesehen“, schrieb Chodakowski auf Telegram. Die aus Deutschland stammenden Kampfpanzer Leopard sind Teil der westlichen Waffenlieferungen an Kiew.
Wie groß die Spannungen innerhalb der russischen Angreifer mittlerweile sind, zeigt sich auch darin, dass sich die Wagner-Söldner und die russische Armee offen bekämpfen. Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin warf der russischen Armee gestern vor, seine Kämpfer bei einer Minenräumung beschossen zu haben. Prigoschin verbreitete ein Video, auf dem zu sehen ist, wie Wagner-Kämpfer den von ihnen gefangen genommenen und offensichtlich verprügelten russischen Offizier namens Roman Venevitin demütigen. Venevitin, Kommandeur der 72. Brigade, bekennt sich in dem auf dem Video aufgezeichneten Verhör „schuldig“, zusammen mit zehn bis zwölf anderen Soldaten und im betrunkenen Zustand auf ein Auto geschossen zu haben, das den Wagner-Söldnern gehörte. Auf die Frage, warum er das getan habe, antwortet Venevitin: „Aus persönlicher Abneigung“. Am Wochenende hatte Prigoschin der russischen Armee vorgeworfen, eine Straße vermint zu haben, auf der seine Kämpfer Bachmut verlassen wollten.
Derweil gibt es zunehmend auch Kritik des Westens an den Kämpfen auf russischem Boden. Beim Überfall auf russisches Gebiet am 23. Mai wurden von den russischen Putin-Gegnern auch US-Fahrzeuge und Waffen aus der EU verwendet. Recherchen der „Washington Post“ bestätigen die Darstellung des Kreml, wonach die mindestens vier Militärfahrzeuge, die die Angreifer auf ihrer Flucht zurücklassen mussten, aus westlichen Waffenlieferungen stammen – drei US-Jeeps vom Typ MRAP sowie ein polnischer Militärtransporter. Die Kämpfer der selbst ernannten Legion Freiheit für Russland sowie die Miliz Russisches Freiwilligenkorps trugen zudem Gewehre aus Belgien und Tschechien sowie eine Panzerfaust westlicher Bauart. Die russischen Guerilla-Kämpfer behaupten zwar, sie hätten die westliche Ausrüstung von russischen Militärs zurückerobert – doch auf Fotos erkennbare Markierungen der Waffen lassen das wenig glaubwürdig erscheinen.
Die belgische Regierung forderte die Ukraine ziemlich deutlich auf, „die Situation zu erklären“. Ministerpräsident Alexander De Croo erklärte: „Die Regel ist klar: Waffen, die wir an die Ukraine liefern, sind für defensive Zwecke bestimmt und dafür, ukrainisches Territorium zu verteidigen“. Auch Kanzler Olaf Scholz hatte betont, „dass die Waffen, die wir geliefert haben, nur auf ukrainischem Territorium eingesetzt werden“.