Kiew – Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die internationalen Hilfsorganisationen wegen ihrer angeblichen Passivität nach der durch eine Staudammzerstörung hervorgerufenen Flutkatastrophe kritisiert. „Jeder tote Mensch ist ein Urteil für die bestehende internationale Architektur, für internationale Organisationen, die vergessen haben, wie man Leben rettet“, sagte er am Mittwochabend in seiner täglichen Videoansprache. Er machte keine Angaben, wie viele Ukrainer ums Leben kamen.
Stattdessen sprach er von 2000 Menschen, die im ukrainischen Teil des vom Hochwasser besonders betroffenen Gebiets Cherson gerettet worden seien. Schwer sei die Lage allerdings im russisch besetzten Teil des Gebiets. Selenskyj warf den russischen Truppen vor, die Menschen dort im Stich zu lassen – und ukrainische Rettungsversuche zu torpedieren. In dem Zusammenhang kritisierte er internationale Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz, das seiner Ansicht nach aktiver sein müsste.
Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) wies die Kritik am Donnerstag zurück. „Natürlich sind wir schon da, waren schon da. Aktuell versuchen gerade über 70 Freiwillige des ukrainischen Roten Kreuzes, Menschen aus den Flutmassen zu retten“, sagte DRK-Generalsekretär Christian Reuter. Demnach sind mehrere Hundert Kräfte des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in der Ukraine im Einsatz. „Also dass wir nichts machen, ist sicherlich definitiv nicht der Fall.“
Die Kritik hatte der ukrainische Präsident zuvor schon im Interview mit „Welt“, „Bild“ und „Politico“ in Kiew geäußert. Er bedankte sich aber für bilaterale Hilfszusagen aus dem Ausland. Er habe mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan telefoniert und konkrete Hilfsangebote besprochen. Letzterer schlug eine Untersuchungskommission zur Dammzerstörung vor.
Das Technische Hilfswerk (THW) schickte unterdessen acht Laster mit Hilfsgütern in Richtung Ukraine. Sie würden am Freitag oder Samstag erwartet, sagte THW-Präsident Gerd Friedsam. Zunächst würden Trinkwasserfilter und Stromgeneratoren geliefert. „Und wir ergänzen das jetzt noch mal mit Unterkunftsmaterial wie Zelten, Decken, Feldbetten.“ Die Hilfe richte sich nach den Anforderungen der Katastrophenschutzbehörden.
Wladimir Putin meldete sich nach dem Dammbruch erstmals zu Wort. Er beschuldigte die ukrainische Führung, dahinterzustecken. Dies sei ein Beispiel dafür, dass Kiew und die Hintermänner im Westen auf eine „weitere Eskalation der Kampfhandlungen setzen, Kriegsverbrechen begehen, offen terroristische Methoden anwenden und Sabotageakte auf russischem Gebiet organisieren“, hieß es in der Mitteilung des Kremls.
Nach der Teilzerstörung des Staudamms reicht das Wasser des Stausees nach ukrainischen Angaben nun nicht mehr aus, um die Reaktoren im Atomkraftwerk Saporischschja zu kühlen. Der Chef des ukrainischen Energieunternehmens Ukrhydroenergo, Igor Syrota, sagte am Donnerstag, der Wasserpegel sei unter eine kritische Marke gesunken.
Wolodymyr Selenskyj und seine Regierung sehen sich neuen Vorwürfen ausgesetzt. Eine Beteiligung seiner Regierung an den Sabotage-Aktionen an den Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 bestritt Selenskyj und forderte Beweise für eine ukrainische Beteiligung. In dem am Dienstag veröffentlichten Artikel hieß es, dass die US-Regierung drei Monate vor den Explosionen von einem europäischen Geheimdienst von einem Plan des ukrainischen Militärs erfahren habe. Zudem warf Russland der Ukraine einen Anschlag auf eine Ammoniakleitung vor und drohte deswegen mit dem Ende des Getreidedeals.