Millionen-Poker mit Tunesien startet

von Redaktion

VON JOHANNES SADEK, DORIS PUNDY UND MANUEL SCHWARZ

Tunis/Rom/Brüssel – Die EU-Kommission stellt dem wirtschaftlich schwer angeschlagenen Tunesien Finanzhilfen in Höhe von bis zu 900 Millionen Euro in Aussicht. Angesichts steigender Zahlen von Mittelmeermigranten hofft Brüssel darauf, gemeinsam mit Tunesien effektiver gegen Schlepper und illegale Überfahrten vorzugehen. Etwa für Such- und Rettungsaktionen und die Rückführungen von Migranten wolle man gut 100 Millionen Euro zur Verfügung stellen, kündigte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Sonntag in Tunis nach einem Gespräch mit Präsident Kais Saied an. Das wäre die dreifache Summe, mit der Brüssel Tunis zuletzt im Schnitt jährlich unterstützte.

An dem Treffen nahmen auch Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und der niederländische Regierungschef Mark Rutte teil. Vor allem Meloni drängt auf Abkommen mit Tunesien, um die dort ablegenden Migrantenboote auf deren Weg nach Süditalien und damit in die EU schon früh zu stoppen. Die ultrarechte Politikerin sprach von einem „wichtigen ersten Schritt“. Saied nahm nicht an dem Statement teil.

Ob der Deal kommt, dürfte von einem Entgegenkommen Saieds abhängen. Bereits ein Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) in Höhe von 1,9 Milliarden Dollar hängt in der Luft, weil Saied keine verbindliche Zusage zu den dafür verlangten Reformen machen will.

In Tunesien mit seinen 12 Millionen Einwohnern leben viele tausend Migranten aus Ländern südlich der Sahara. Viele spüren großen Druck, das Land zu verlassen. Saied hatte im Februar ein härteres Vorgehen gegen sie angekündigt und ihnen vorgeworfen, Gewalt und Kriminalität ins Land zu bringen.

Von der Leyen sagte, die Achtung der Menschenrechte sei wichtig für eine „ganzheitliche“ Migrationspolitik. Hilfsorganisationen und Beobachter kritisieren die Bedingungen und Zustände, denen Migranten in Tunesien ausgesetzt sind. Sie unterstreichen, dass Tunesien unter dem zunehmend autoritär regierenden Saied kein sicherer Ort sei, in den Flüchtlinge zurückgeschickt oder festgehalten werden dürfen.

Von einer Vereinbarung mit Tunis erhofft sich allen voran Meloni, ihrem lang erklärten Ziel näherzukommen, den Mittelmeerüberfahrten ein Ende zu bereiten oder diese wenigstens zu verringern. Allein bis Freitag zählte das Innenministerium in Rom mehr als 53 000 Bootsmigranten, die seit Jahresbeginn an den italienischen Küsten ankamen – im Vergleichszeitraum 2022, also noch unter der Regierung von Mario Draghi, waren es knapp 22 700. Um die Unterstützung von Ländern wie Tunesien zu bekommen, schlug Meloni immer wieder vor, Tunis – ähnlich wie das die EU 2016 mit der Türkei in einem Deal vereinbart hatte – dafür zu bezahlen, die Migrantenboote konsequent am Ablegen zu hindern.

Saied schloss eine Rolle seines Landes als Grenzpolizei für Europa aus. „Wir können keine Rolle erfüllen, (…) in der wir ihre Länder bewachen“, sagte Saied nach einem Besuch in der Küstenstadt Sfax, von wo aus Schleuser regelmäßig die teils seeuntauglichen und hoffnungslos überfüllten Boote losschicken. Migranten seien „leider Opfer eines globalen Systems, das sie nicht als Menschen sondern als reine Zahlen behandelt“, sagte er.

Auch Tunesier wagen die lebensgefährliche Überfahrt. Viele sehen angesichts hoher Arbeitslosigkeit keine Perspektive mehr zu Hause. Tunesien steckt in seiner schlimmsten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten. Die Bevölkerung kämpft mit steigenden Preisen und Knappheit bei Lebensmitteln. 2020 verzeichnete Tunesien die schwerste Rezession seiner Geschichte. Kritiker werfen Saied Untätigkeit vor.

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