Berlin will Sicherheit neu denken

von Redaktion

VON MIKE SCHIER

München – Es muss etwas Besonderes passiert sein, wenn der Kanzler und gleich vier seiner wichtigsten Ministerinnen und Minister vor die Medien treten. In der Bundespressekonferenz kann man sich jedenfalls nicht an einen solchen Auflauf erinnern. Olaf Scholz (SPD) hatte gestern die erste „Nationale Sicherheitsstrategie“ im Gepäck. Bislang, so erläutert der Kanzler, sei bei Sicherheit mit dem „Weißbuch“ meistens nur die Verteidigungspolitik im Fokus gestanden. Der neue Ansatz ist viel umfassender: Es geht um die Abschirmung kritischer Infrastruktur vor Hackern, die Abwehr chinesischer Überwachung oder russischer Desinformation. Den Schutz der Wirtschaft und des Kapitals. Aber auch die Eindämmung der Klimakrise und eine Verbesserung des Katastrophenschutzes.

Kein Wunder, dass auf dem Podium so viele Minister Platz nehmen. Für fast jedes dieser Gebiete ist ein anderer zuständig. Und da fast alles mit Ausgaben verbunden ist, wird auch Christian Lindner gebraucht.

Im Lauf der monatelangen Beratungen, die unter der Federführung von Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) stattfanden, hatte es kontroverse Debatten gegeben. Baerbock, aber auch die FDP, hatten beispielsweise einen nationalen Sicherheitsrat vorgeschlagen. Das Kanzleramt sträubte sich – offenbar ging es um Kompetenzgerangel, wer ein solches Gremium anführt. Zwischenzeitlich schien die ganze Sicherheitsstrategie vor dem Scheitern zu stehen. Eigentlich sollte sie schon im Februar bei der Münchner Siko vorgestellt werden.

Jetzt gibt es doch ein Ergebnis: Ohne Sicherheitsrat, der ständig die Lage beobachtet. Baerbock gibt sich betont zufrieden: Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine habe man gesehen, dass das sogenannte Sicherheitskabinett in Krisensituationen gut arbeite und als Institution reiche. Gleichzeitig habe der Angriff aber die Dringlichkeit für einen umfassenderen Sicherheitsansatz verdeutlicht.

Die Ministerin gibt gleich selbst ein Beispiel. 2015 habe sie – damals noch in der Opposition – im Wirtschaftsausschuss miterlebt, wie der größte deutsche Gasspeicher an den russischen Staatskonzern Gazprom verkauft wurde. Damals hatten sich die allerwenigsten darüber Gedanken gemacht. Später war es dann Baerbocks grüner Parteifreund Robert Habeck, der das wieder rückgängig machen musste. im vergangenen Winter wurde der Speicher angesichts der Energiesorgen dringend gebraucht.

All das, was früher nicht unter sicherheitspolitischen Aspekten relevant schien, soll heute verzahnt gedacht werden. Der Zugang zu Medikamenten (mitunter ein Problem während Corona), Lebensmitteln, sauberem Trinkwasser. Es gehe also um militärische Verteidigung – das Zwei-Prozent-Ziel soll schon im kommenden Jahr erfüllt werden –, aber auch um Zivilverteidigung, Bevölkerungsschutz und Entwicklungspolitik. Wo die Bundesregierung dabei den Feind sieht, wird klar: „Das heutige Russland ist auf absehbare Zeit die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum“, heißt es in dem mehr als 70 Seiten starken Papier. Und: „China ist Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale.“ Scholz betont aber, es gehe nicht darum, sich nicht von China abzukoppeln.

Revolutionär neu ist davon im Detail nichts. Die ersten Reaktionen sind entsprechend kritisch. Die Deutsche Polizeigewerkschaft ist enttäuscht. Ihr Vorsitzender Rainer Wendt spricht von einem „Sammelsurium an Wünschen und Zielen, von denen niemand weiß, wann sie von wem umgesetzt werden sollen“. Und CDU-Chef Friedrich Merz (CDU) sagt, das Konzept sei „inhaltlich blutleer, strategisch irrelevant und außenpolitisch folgenlos“.

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