Athen – Erneuter Massentod im Mittelmeer: Ein mit rund 500 Migranten besetztes Fischerboot ist in der Nacht zu Mittwoch im Ionischen Meer zwischen Italien und Griechenland gesunken. Das Bootsunglück ereignete sich in internationalen Gewässern 47 Seemeilen südwestlich der kleinen Küstenstadt Pylos im Südwesten der Halbinsel Peloponnes. Die Zahl der bestätigten Toten stieg von Stunde zu Stunde. Gestern Abend wurden mindestens 78 Tote gemeldet. Die tatsächliche Zahl liegt womöglich deutlich höher.
Griechischen Medienberichten zufolge war das völlig überfüllte Fischerboot vom ostlibyschen Hafen Tobruk gestartet. Sein Ziel: Italien. Laut griechischer Küstenwache sei das mit hoher Geschwindigkeit in Richtung Norden fahrende Fischerboot am Dienstagmittag zunächst von einem Flugzeug der EU-Grenzschutzagentur Frontex und anschließend von zwei Patrouillenschiffen gesichtet worden. Viele Menschen befanden sich auf dem Außendeck. Wiederholt hätten die Bootsinsassen Hilfsangebote abgelehnt und erklärt, dass sie ihre Reise nach Italien fortsetzen wollten.
In der Nacht zu Mittwoch um 2.30 Uhr Ortszeit sei das Fischerboot gekentert und rasch untergegangen, wie die Küstenwache erklärte. Die griechischen Behörden leiteten umgehend eine große Rettungsaktion mit Schiffen, Flugzeugen und einem Hubschrauber ein. Mittags traf dann die unter der Flagge der Cayman-Inseln fahrende Luxus-Yacht Mayane Queen IV mit genau 100 geretteten Menschen im Hafen der Großstadt Kalamata im Süden des Peloponnes ein. Weitere vier Personen wurden per Hubschrauber von der Unglücksstelle nach Kalamata gebracht. Medienberichten zufolge trug keiner der Geretteten eine Rettungsweste.
Das neuerliche Bootsunglück im zentralen Mittelmeer ist eine Katastrophe mit Ansage. Die von Juli 2019 bis Ende Mai 2023 amtierende Einparteienregierung unter dem konservativen Premier Kyriakos Mitsotakis, der mit besten Chancen eine Wiederwahl am 25. Juni anstrebt, verfolgt in der Flüchtlingspolitik eine stark restriktive Linie. Oberste Priorität ist es, die Festlands- und die Seegrenze zur Türkei zu „versiegeln“, um Schleppern das Handwerk zu legen. Die Zahlen gehen seitdem zurück: In den ersten vier Monaten des laufenden Jahres zählte Griechenland nur 4656 Neuankömmlinge.
Die restriktive Politik erhöht aber den Druck auf der weit gefährlicheren Route westlich von Griechenland im zentralen Mittelmeer – und hier vor allem von Libyen nach Italien. Im Januar und Februar dieses Jahres kamen über diese Route 12 000 Migranten in der EU an. Allerdings häufen sich in dieser Region die Havarien. Am Mittwochmorgen geriet südlich von Kreta ein Boot mit 80 Migranten aus Syrien, dem Irak und Palästina, darunter Frauen und Kinder, in Seenot. Sie befinden sich nun auf Kreta. Am Wochenende war unweit der Insel Kythira ein Boot in Seenot geraten. Etwa 100 Schutzsuchende wurden gerettet. Dagegen starben Ende Mai nahe Mykonos neun Migranten. FERRY BATZOGLOU