München – Man kann den Zeitpunkt für verfrüht halten, andererseits: Wann, wenn nicht jetzt? Die AfD hat erklärt, mit einem Kanzlerkandidaten in die nächste Bundestagswahl zu ziehen. Die findet zwar erst in gut zwei Jahren statt, aber eine Welle muss man reiten, solange sie rollt. Die Zustimmung, sagte Parteichefin Alice Weidel, „verpflichtet uns, einen Führungsanspruch herzustellen“. Antreten würde sie wohl am liebsten selbst.
Die Welle mag nicht gewaltig sein, aber sie ist beunruhigend hoch: In Umfragen klettert die AfD seit Wochen, im ARD-Deutschlandtrend liegt sie hinter der Union auf Platz zwei (19 Prozent) – vor allen Ampel-Parteien. Zugleich gibt es eine Art Verstärkereffekt, den auch die Grünen schon erlebt haben: Je öfter und aufgeregter die aktuelle Stärke thematisiert wird, desto mehr kommt die Dynamik ins Rollen. Die Kanzlerkandidatur, faktisch rein symbolisch, ist da ein Beschleuniger.
Die Lage der Rechtspopulisten erinnert ein wenig an 2018, als die AfD schon einmal in den jetzigen Umfragehöhen unterwegs war. Allerdings hat sich seither vieles geändert: Der vergleichsweise gemäßigte Parteiflügel ist endgültig kaltgestellt, der Verfassungsschutz hält große Teile für rechtsextrem. Dass es die AfD in ihrer Kernregion Ostdeutschland trotzdem schon in diverse Stichwahlen geschafft hat, lässt manche verzweifeln. Die AfD kommt ihrem ersten Regierungsamt immer näher, trotz allem.
Möglich, dass es schon am Sonntag so weit ist, wenn im thüringischen Landkreis Sonneberg ein neuer Landrat gewählt wird. Der AfD-Kandidat Robert Sesselmann kam im ersten Wahlgang vor knapp zwei Wochen auf 46,7 Prozent und lag mehr als zehn Punkte vor dem CDU-Konkurrenten Jürgen Köpper. Die AfD in Bund und Land ist entsprechend elektrisiert, die anderen Parteien alarmiert. Notgedrungen verbünden sie sich: Linke, SPD, FDP und Grüne rufen dazu auf, den CDU-Kandidaten zu wählen.
Es ist nicht das erste Mal und das Dilemma ist immer das gleiche: Der AfD gilt das Vorgehen als Beleg dafür, dass sie quasi alleine einem Parteien-Einheitsbrei gegenübersteht. Und: Laut Deutschlandtrend findet es nur eine knappe Mehrheit von 52 Prozent richtig, dass im Kern ganz unterschiedliche Parteien eine Anti-AfD-Wahlempfehlung aussprechen. 35 Prozent halten das für falsch. Im Osten sind es sogar 40 Prozent.
Sollte die AfD im Kreis Sonneberg, gleich an der Grenze zu Bayern, tatsächlich ihr erstes Spitzenamt gewinnen, wäre das für viele ein Dammbruch – und ein düsterer Fingerzeig für die Landtagswahlen im nächsten Jahr. „Wir können bei einem Wahlerfolg beweisen, dass mit der AfD die Welt nicht untergeht“, sagte Stefan Möller, neben dem Rechtsextremisten Björn Höcke Chef der Thüringer AfD. Die liegt in Umfragen bei 28 Prozent (Insa-Institut, April), deutlich vor der regierenden Linken von Ministerpräsident Bodo Ramelow und der CDU.
Ihre Machtoptionen sind zwar – wie im Bund – gleich null. Ein starkes Ergebnis würde aber vor allem die Union in Bedrängnis bringen. Die Verzweiflung ist vereinzelt schon spürbar. André Neumann, CDU-Bürgermeister der thüringischen Kreisstadt Altenburg, brachte unlängst eine Öffnung nach links ins Spiel, weil eine Regierungsmehrheit nur durch eine CDU-Linke-Koalition herstellbar sein werde. Als ihn ein Parteifreund bei Twitter an den bundesweiten Unvereinbarkeitsbeschluss erinnerte, antwortete Neumann: „Am Ende beschließen wir uns noch in die Bedeutungslosigkeit.“
Die AfD tut, was sie am besten kann: Sie spielt genüsslich mit der Verunsicherung. Informelle Gespräche zwischen AfD und CDU gebe es im Osten längst, behauptete sie bei „Welt TV“. „Das kann Friedrich Merz überhaupt nicht verhindern.“ Der CDU-Chef sieht das anders, schließt ein Zusammengehen mit der AfD strikt aus. Mit diesen Leuten, sagte er unlängst, „haben wir nichts zu tun“.