Kiew/München – Der Präsident spricht russisch, ausnahmsweise. Die tägliche Videoansprache des ukrainischen Staatschefs Wolodymyr Selenskyj richtet sich diesmal an die Russen. Er ruft sie zum Sturz von Wladimir Putin auf. „Je länger dieser Mensch im Kreml ist, desto größer wird die Katastrophe“, sagt er. Je länger die russischen Truppen in der Ukraine seien, desto mehr Verwüstung würden sie später nach Russland bringen.
Die Hoffnung in der Ukraine ist verständlich. Dass nun einen Tag lang Russen gegen Russen kämpften, die Wagner-Söldner gegen Putins Armee, band militärische Kapazitäten und zerstörte Nachschubwege und Reserven rund um Rostow. Allerdings sieht es nach dem Ende des kurzen Aufstandes so aus, als würden sich Söldner und Armee wieder dem gemeinsamen Gegner Ukraine zuwenden. Mittelfristig könnten Teile der Wagner-Armee in die russischen Truppen eingegliedert werden. Hier ist die Hoffnung der Ukraine, dass es immense Reibungsverluste geben wird, Befehlsverweigerer bis hinauf zu Offizieren, die keine Lust haben, in Putins überbürokratischer, unterfinanzierter Armee zu dienen. Sie sind dezentral gesteuerte, schnelle Einsätze gewöhnt. Zugleich kann sich der Kreml ihrer Loyalität nicht sicher sein.
Die nun aufgedeckten Mängel im russischen Sicherheitssystem könnten die Moral der russischen Soldaten an der Front in der Ukraine schwächen, analysiert das US-Institut für Kriegsstudien (ISW) in Washington. „Das können die ukrainischen Kräfte bei ihren Versuchen nutzen, die russischen Linien zu durchbrechen.“ Auch der Grünen-Europapolitiker Anton Hofreiter sagt, die Gefechte in Russland könnten „es den Ukrainern erleichtern, besetzte Gebiete zurückzuerobern und die Kontrolle über ihr Staatsgebiet zurückzuerlangen“.
Gefährlich für die Ukraine kann der Rückzug des Wagner-Chefs Jewgeni Prigoschin ins Exil nach Belarus sein – falls ihm viele seiner Kämpfer folgen. Der britische Ex-General Richard Dannatt warnt vor einem Angriff der Privatarmee auf die Ukraine dann aus Belarus. Er denke, dass die Sache „alles andere als abgeschlossen ist und dass die Nachbeben noch eine ganze Weile zu spüren sein werden“, betonte der frühere Generalstabschef bei Sky News. Die Ukraine müsse „ihre Flanke genau beobachten und sichergehen, dass sie über einige manövrierfähige Einheiten verfüge“.
An der Front in der Ukraine ist bisher wenig Veränderung zu erkennen. Die ukrainischen Streitkräfte haben nach Informationen britischer Geheimdienste bei ihrer Offensive „schrittweise, aber stetige taktische Fortschritte“ gemacht. Zugleich setzte Russland seine Raketenangriffe auf Kiew aber fort. Ein 24-stöckiges Wohnhaus wurde getroffen. In den Trümmern starben mindestens fünf Menschen. Nach ukrainischen Angaben hatte Russland nachts mit mehr als 50 Marschflugkörpern und drei Kampfdrohnen angegriffen. Die Drohnen und 41 Marschflugkörper seien abgefangen worden.
Ob ein ukrainischer Sieg nun näher liegt, darauf wollen sich westliche Politiker bisher nicht festlegen. Auch ist unklar, ob der Krieg im Falle eines Putin-Sturzes nicht noch viel schmutziger würde. Nach Krisentelefonaten mit US-Präsident Joe Biden, Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron und dem britischen Premierminister Rishi Sunak ließ Kanzler Olaf Scholz lediglich den dünnen Satz mitteilen, man bekräftige die „Entschlossenheit, die Ukraine so lange wie nötig zu unterstützen“.
Aus der Ukraine kommen nun Forderungen auch an die Deutschen, bei den Waffenlieferungen keinesfalls nachzulassen. Auch die Rufe nach einer deutschen Beteiligung an einer Kampfjet-Koalition für Kiew werden lauter. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius wies das zurück. „Wir sind die Experten für Panzerlieferungen und Panzertechnologie gewesen, sind es für die Luftverteidigung, die nach wie vor von enormer Bedeutung ist“, sagte der SPD-Politiker. „An dieser Stelle sind wir nicht in erster Reihe.“ Deutschland sei nicht Teil der Koalition, weil man keine F-16-Jets habe.