München – Die Geschichte ist schon legendär. Als am 23. Februar 2022 die Russen in der Ukraine einmarschieren, ist BND-Präsident Bruno Kahl gerade in Kiew eingeflogen. Klar, dass sich der Ton zwischen Moskau und der ukrainischen Hauptstadt dramatisch verschärft, weiß man beim BND. Es steht ja auch in allen Zeitungen. Doch dass der Krieg an diesem Abend beginnt, ahnen die Spione nicht. Kahl wird überrascht. Während die Botschafterin und ihre verbliebenen Mitarbeiter nachts das Land verlassen, bleibt der BND-Chef vor Ort. Erst tags darauf macht er sich auf den Heimweg – und bleibt im Stau der Flüchtlinge stecken. Für die 600 Kilometer bis zur polnischen Grenze braucht Deutschlands wichtigster Geheimdienstler 36 Stunden.
An diese Geschichte wird jetzt wieder erinnert. Erneut steht der BND in der Kritik, weil ihn ein wichtiges Ereignis überrascht. Diesmal der Aufstand des Wagner-Chefs Jewgenij Prigoschin. Der BND hatte keine Erkenntnisse über den bevorstehenden Marsch Richtung Moskau. Aus den USA dagegen kommen Berichte, die eigenen Dienste seien informiert gewesen. Wie viel davon stimmt und was nur zur Verunsicherung Moskaus erzählt wird, mag schwer zu beurteilen sein. Sicher ist aber, dass man in Berlin nun wieder über die Qualität des BND diskutiert.
Bruno Kahl gerät zunehmend in Erklärungsnot. Seit sieben Jahren ist der Präsident im Amt – entgegen vieler Erwartungen überstand das CDU-Mitglied auch den Regierungswechsel von Angela Merkel zu Olaf Scholz. Inzwischen wird offen über eine Absetzung spekuliert. Zu den aktuellen Vorwürfen schweigt der 60-Jährige. Dafür sprechen seine Vorgänger – und gehen zur Vorwärtsverteidigung über.
„Wer dem BND einen juristischen Brocken nach dem anderen in den Weg legt, der muss sich nicht wundern, dass dies Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit bei der Informationsbeschaffung hat“, sagt Kahls Vorgänger Gerhard Schindler gegenüber der dpa. „Die Mutation von einem operierenden Nachrichtendienst in eine mit sich selbst beschäftigte Verwaltungsbehörde ist politisch gewollt. Die Gesetzesänderungen der letzten Jahre haben doch genau dies bewirkt.“
August Hanning klingt ähnlich: „Bei allen unseren Verbündeten werden Nachrichtendienste als elementar wichtig für die nationale Sicherheit angesehen. In Deutschland gelten sie – überspitzt gesagt – als Sicherheitsrisiko. Diese Haltung war schon immer schädlich, jetzt aber wird sie lebensgefährlich für die nationale Sicherheit“, sagte Hanning der „Welt am Sonntag“. Er stand dem BND von 1998 bis 2005 vor. Dass die Ukraine trotz der personellen und materiellen Unterlegenheit den russischen Truppen standhalte, habe „vor allem nachrichtendienstliche Gründe“.
Es geht ans Eingemachte. Denn die jüngste Pleite steht in einer Reihe größerer Blamagen: Man denke an die Sitzung des Krisenstabes am 13. August 2021 zum Thema Afghanistan. Die Taliban standen schon vor Kabul, aber die damalige Vize-Chefin des BND beruhigte: Die Übernahme der Hauptstadt sei vor dem 11. September „eher unwahrscheinlich“, lautete die Prognose von Tania Freiin von Uslar-Gleichen. Nur zwei Tage später waren die Taliban an der Macht – der Westen musste überstürzt eigene Staatsbürger und Ortskräfte ausfliegen.
Unschöne Schlagzeilen gab es auch im Dezember, als ein BND-Mitarbeiter aufflog, der offenbar geheime Informationen an Russland weitergab. Peinlich: Doppelagent Carsten L., der in Weilheim wohnte, wurde dank Warnungen eines anderen westlichen Geheimdienstes enttarnt.
Die politische Debatte scheint gerade erst zu beginnen. Nicht alle wollen sie öffentlich führen. Die Stellungnahmen der früheren BND-Chefs werden aber genau verfolgt. Die Kanzler-Partei will die Vorwürfe nicht auf sich sitzen lassen. „Eine moderne und professionelle Kontrolle der Nachrichtendienste gibt den Diensten Sicherheit und einen klaren Rahmen hinsichtlich ihrer Befugnisse“, sagt der SPD-Abgeordnete Uli Grötsch unserer Zeitung. Der Oberpfälzer Ex-Polizist sitzt im parlamentarischen Kontrollgremium des Bundestags. „Es war und ist nie Ziel deutscher Politik gewesen, Nachrichtendiensten die Möglichkeit zur totalen Überwachung zu geben. Der Bundesnachrichtendienst ist mit umfangreichen Befugnissen und modernster Technik ausgestattet, um seinem Auftrag nachkommen zu können.“ Die Koalitionen hätten in den zurückliegenden Jahren das Personal und die Technik des BND „massivst aufgestockt“, sagt Grötsch.