Dschenin – Erstmals seit zwei Jahrzehnten hat Israel wieder eine groß angelegte Militäroffensive im Westjordanland begonnen. Die Armee rückte nach mehreren Luftschlägen in der Nacht auf Montag mit Bodentruppen in die palästinensische Stadt Dschenin ein. Mindestens acht Palästinenser wurden getötet, darunter ein 16-Jähriger. Dutzende weitere wurden nach palästinensischen Angaben zum Teil lebensgefährlich verletzt. In der Stadt kam es über Stunden zu heftigen Feuergefechten. Bei mindestens einem Toten soll es sich Berichten zufolge um einen militanten Palästinenser handeln. Die Kämpfe dauerten am Nachmittag weiter an.
Zuletzt hatten sich die Anzeichen für eine Großoffensive verdichtet. In Israel waren über Wochen vermehrt Rufe nach einem härteren Vorgehen in Dschenin laut geworden. Finanzminister Bezalel Smotrich sagte etwa, es sei „an der Zeit, statt Aktivitäten mit der Pinzette eine breite Operation zur Beseitigung der Terrornester“ im Norden des Westjordanlandes zu starten. Ähnliche Forderungen kamen auch vom rechtsextremen Polizeiminister Itamar Ben-Gvir. Militärsprecher Richard Hecht sagte gestern, Ziel der Operation „Heim und Garten“ sei es, „terroristische Infrastruktur“ zu zerschlagen. Das Militär wolle die Stadt, die unter der Kontrolle der palästinensischen Autonomiebehörde (PA) steht, nicht besetzen. Dschenin solle jedoch nicht weiter „ein sicherer Hafen für Terroristen“ sein. Demnach flüchteten seit September 19 Palästinenser nach Anschlägen auf Israelis in das keine 80 Kilometer von Jerusalem gelegene Dschenin. Berichten zufolge sollen mehr als tausend Soldaten an dem Einsatz beteiligt sein.
Die dicht besiedelte Stadt Dschenin und das dazugehörende Flüchtlingslager mit rund 17 000 Einwohnern gelten seit Jahren als Hochburg militanter Palästinenser. Neben der im Gazastreifen herrschenden Hamas haben auch die militante Palästinenserorganisation Islamischer Dschihad sowie weitere Gruppierungen dort massiv an Einfluss gewonnen. Finanziert werden sie größtenteils vom Iran. Zuletzt kam es vor gut 20 Jahren während des zweiten Palästinenseraufstandes (2000-2005) zu einem vergleichbaren Einsatz. 2002 lieferten sich israelische Soldaten und militante Palästinenser in den engen Gassen des Lagers tagelange Gefechte. Mehr als 50 Palästinenser und 23 israelische Soldaten wurden damals getötet.
Die Hamas rief gestern zur Mobilisierung der Palästinenser im Westjordanland auf und sicherte ihren Kämpfern in Dschenin Unterstützung zu. Ein Sprecher des Islamischen Dschihads teilte mit: „Solange diese Aggression nicht aufhört, werden die Reaktionsmöglichkeiten breit und umfassend sein“. Der Sprecher des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas, Nabil Abu Rudeineh, sprach von einem „neuen Kriegsverbrechen“ und forderte von der internationalen Gemeinschaft, „ihr beschämendes Schweigen zu brechen und ernsthafte Maßnahmen zu ergreifen“. Israel eroberte das Westjordanland und Ost-Jerusalem während des Sechstagekrieges 1967. Die Palästinenser fordern die Gebiete für einen eigenen Staat.