München – Die EU schließt einen Flüchtlingsdeal mit Tunesien. Doch was heißt das? Der Münchner Franz Maget (SPD), einst Oppositionsführer im Landtag, beschäftigt sich seit Jahren mit Nordafrika. Er war Sozialreferent an der Botschaft in Tunis, seit 2018 fungiert er als Sonderberater des Entwicklungshilfeministeriums bei Fragen zu die Maghrebstaaten.
Wie viel kann Tunesien Ihrer Ansicht nach in Sachen Migration beeinflussen?
Einiges. Tunesien kann seine Südgrenze zur Sahara besser kontrollieren, aber auch die Grenzen zum Mittelmeer. Die italienische Regierung hofft, dass sich dadurch die Zahl der Flüchtlingsboote reduziert – weil Italien das Hauptzielland der Boote aus Tunesien ist. Das war eines der großen Wahlkampfversprechen von Giorgia Meloni.
Wie verlässlich ist Tunesien als Partner?
Tunesien hat sich in den letzten Jahren leider verändert: von einem demokratischen zu einem autoritären Staat. Staatspräsident Kais Saied wurde zwar demokratisch gewählt, hat aber parlamentarische Spielregeln mittlerweile vollständig ausgehebelt.
Das heißt?
Man kann davon ausgehen, dass Entscheidungen des Präsidenten umgesetzt werden. Und Kais Saied hat ein großes Interesse an dem Abkommen, weil er dringend Geld braucht. Bislang lehnt er einen Kredit des IWF ab, weil er die daran gekoppelten Auflagen als unerfüllbar sieht. Er befürchtet soziale Unruhen. Mit dem Geld aus Europa kann er nun die Küstenwache stärken, aber auch die Lebensperspektiven seiner Bevölkerung verbessern.
Lernfrage: Wie viele Tunesier befinden sich unter den Flüchtlingen, die über diese Route kommen?
Die Flüchtlingsboote sind etwa zur Hälfte mit jungen Tunesiern besetzt, die keine Perspektive mehr sehen. Es gibt eine hohe Jugendarbeitslosigkeit und infolge des Klimawandels Probleme in der Landwirtschaft. Das Wasserproblem wird immer drängender. Und so weiter. Die andere Hälfte der Flüchtlinge kommt aus Subsahara-Staaten wie der Elfenbeinküste und Nigeria oder dem frankofonen Westafrika.
Moralisch betrachtet kann man fragen, ob es gut ist, einem Diktator unser Steuergeld zu geben.
Diese Frage stellt sich generell, wenn man sich Partner außerhalb der EU sucht. Sie würde sich auch bei jeglicher Kooperation mit Ägypten oder Algerien stellen. Aber ja eigentlich auch schon mit unserem Nato-Partner Türkei. Die Antwort: An Autokraten kommt man nicht vorbei.
In der Türkei ist Europa mit dem Abkommen nicht schlecht gefahren.
Ganz meine Meinung. Recep Tayyip Erdogan ist – bei allen Kritikpunkten – ein ganz wichtiger Partner bei der Bekämpfung von illegaler Migration nach Europa.
Das passt ins Bild. Viktor Orbán hat die Westbalkanroute dicht gemacht. Der Tunesien-Deal kommt von Giorgia Meloni. Sind wir Deutschen zu selbstgerecht?
Wir vergessen gerne: Die allermeisten Flüchtlinge kommen ja gar nicht bis zu uns. Zig Millionen bleiben in anderen Ländern hängen. In Jordanien, im Libanon oder in den afrikanischen Ländern in der Nähe des Sudan gibt es riesige Flüchtlingslager. Deutschland unterstützt dort das Flüchtlingswerk UNHCR viel zu wenig. Dabei wäre es unsere allererste moralische Aufgabe, den Menschen dort zu helfen.
Auch weil die Menschen dann nicht weiterreisen?
Viele wollen das gar nicht! Sie bleiben in der Nähe ihrer Heimat und hoffen auf bessere Zeiten, damit sie zurückkehren können. Bei uns herrscht oft der Eindruck, wir würden die Hauptlast der Flüchtlingsbewegung tragen. Das ist völliger Unsinn. Bei uns landet nur ein Bruchteil.
Trotzdem: Viele wollen auch nach Europa.
Auch deshalb ist es wichtig, die Zustände vor Ort zu verbessern. Die Reise über das Mittelmeer ist wahrlich keine Vergnügungsfahrt, die Zahl der Todesopfer zuletzt beständig gestiegen.
Wenn Tunesien künftig härter durchgreift, wird es Ausweicheffekte geben.
In wenigen Wochen findet auf Einladung von Frau Meloni ein Migrationsgipfel in Rom statt, wo auch der Präsident von Algerien und vielleicht der König von Marokko und die ägyptische Seite teilnehmen.
Das heißt, es gibt dann weitere Abkommen?
Davon gehe ich aus. Ich war vor zwei Wochen in Algier. Da habe ich erfahren, dass Frau Meloni schon drei Mal persönlich vor Ort war. Wobei man sagen muss: Die Algerier gehen schon seit Langem viel härter gegen Migranten vor als die Tunesier. Da setzt man Leute in den Bus, lässt sie in der Sahara raus und überlässt sie ihrem Schicksal. In Tunesien ist man bis vor Kurzem viel humaner gewesen – mit der Wirtschaftskrise ändert sich das aber rasant.
Der unsicherste Partner ist Libyen, wo es keine staatliche Ordnung gibt.
Man muss daran erinnern, dass Europa und die USA diesen Zustand herbeigeführt haben. Deutschland war daran nicht beteiligt, weshalb es jetzt eine Moderatorenrolle übernehmen könnte. Es geht darum, diplomatische Lösungen zu finden. Bei den ausländischen Akteuren – von Ägypten, der Türkei über Italien und Frankreich bis zu Russland mit den Wagner-Truppen – wird das allerdings sehr, sehr schwierig.
Interview: Mike Schier