Madrid – Für Spaniens linken Regierungschef Pedro Sánchez ist die Sache klar: Bei der vorgezogenen Wahl des Parlaments am Sonntag gehe es darum zu verhindern, dass die viertgrößte Volkswirtschaft der EU „nicht um fünf, zehn oder sogar vierzig Jahre zurückgeworfen wird“. Der Warnruf des 51-Jährigen hat gute Gründe: Nach fast allen Umfragen wird die konservative Volkspartei PP mit einem Vorsprung von mindestens fünf Prozentpunkten gewinnen und könnte Spanien künftig regieren – vermutlich gemeinsam mit den Rechtspopulisten von Vox.
„Am 23. Juli muss man sich entscheiden zwischen denen, die Tag und Nacht für den Schutz der Bürger gearbeitet haben, und denen, die sich der Zerstörung und der Lüge verschrieben haben“, postulierte Sánchez bei der letzten TV-Debatte. Seine Regierung darf sich in der Tat vieler sozialer Errungenschaften rühmen. Sánchez brüstet sich auch mit einer vergleichsweise robusten Wirtschaft und der Entspannung des heiklen Konflikts mit den katalanischen Separatisten.
Vieles davon steht nun auf dem Spiel. Eine Brandmauer nach rechts gibt es in Spanien nicht. PP-Spitzenkandidat Alberto Núñez Feijóo schließt eine Allianz mit Vox nicht aus, wenn er anders nicht regieren könne. In einigen Regionen regieren beide Parteien schon gemeinsam. Vox trommelt dafür, linke Prestigeprojekte im Bereich Soziales, Minderheitenschutz, Umwelt und Verarbeitung der Diktatur einzukassieren und hart gegen Separatisten durchzugreifen.
Die Bilanz der stets wackeligen und auf Stimmen separatistischer Parteien aus Katalonien und dem Baskenland angewiesenen linken Minderheitsregierung aus sozialistischer PSOE von Sánchez und dem links-alternativen Wahlbündnis Unidas Podemos ist durchaus vorzeigbar. Corona wurde durch eine gut organisierte Impfkampagne eingedämmt, die wirtschaftlichen Folgen des russischen Kriegs gegen die Ukraine bekam das Land schneller als andere in den Griff. Für dieses Jahr werden 2,3 Prozent Wirtschaftswachstum erwartet und die Inflation fiel von rund zehn Prozent vor einem Jahr auf zuletzt unter zwei Prozent.
Auch bei der Gleichstellung zwischen Mann und Frau gab es Fortschritte. Das Elterngeld wird paritätisch aufgeteilt, die Pille danach ist gratis und Spanierinnen können sich bei Regelschmerzen mit Lohnfortzahlung krankmelden. In Aufsichtsräten größerer Firmen ist ein Frauenanteil von 40 Prozent Pflicht. Durch ein neues Trans-Gesetz kann jede Person den Geschlechtseintrag ändern lassen. Auch beim Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt hat Spanien eine Vorreiterrolle.
Aber die schöne Bilanz hat Flecken. Die Hälfte der Bevölkerung kommt mit ihrem Einkommen, das nur mäßig an die Inflation angepasst wurde, gerade so über die Runden, berichtete das Netzwerk gegen Armut EAPN. Die Arbeitslosigkeit ist zwar gefallen, aber gerade bei Jüngeren mit gut 28 Prozent immer noch hoch.
Als Fiasko erwies sich ein neues Sexualstrafrecht. Es sollte das Vorzeigeprojekt der Regierung sein. Doch es öffnete dutzenden Sexualverbrechern vorzeitig die Zellentüren – und führte auch innerhalb der Koalition zu heftigem Streit. Das bot der Opposition reichlich Munition. Außerdem hat die Kompromissbereitschaft der Regierung gegenüber Kataloniens Separatisten viele Spanier verärgert.
Auch in Brüssel wird die Entwicklung mit Sorge verfolgt. Grund ist, dass Vox-Chef Santiago Abascal die von der EU-Kommission vorangetriebenen Klima- und Umweltschutz-Projekte stoppen will und wie Partnerparteien in Ungarn und Polen ein sehr eigenes Verständnis von Rechtsstaatlichkeit hat.
Paradoxerweise wird Vox laut Umfragen weniger Stimmen als bei der letzten Parlamentswahl im Herbst 2019 (15,2 Prozent) bekommen und vielleicht sogar vom neu formierten linken Wahlbündnis Sumar vom dritten Platz verdrängt werden – wegen des erwarteten PP-Sieges aber deutlich mehr Gewicht haben als bisher. Ganz einfach deshalb, weil eine „große Koalition“ in Spanien undenkbar ist. Sánchez wolle nicht einmal eine PP-Minderheitsregierung dulden. Deshalb habe er „keine andere Wahl“, als mit Vox zu sprechen, so Núñez Feijóo.