München – An dem Tag, als der US-Soldat Travis King unerlaubt die Grenze nach Nordkorea überquerte, berichteten die Staatsmedien des Landes über technische Innovationen im Kohlebergbau und Erfolge bei der Fischzucht. Über den spektakulären Grenzübertritt hingegen verloren die Nachrichtenagentur KCNA, die Parteizeitung Rodong Sinmun und all die anderen gleichgeschalteten Medien kein Wort. Ein staatlich verordnetes Schweigen, das bis heute anhält.
Der Fall ist spektakulär: Vor einer Woche, am 17. Juli, war King von Angehörigen des US-Militärs zum Flughafen Incheon nahe Seoul gebracht worden. Der in Südkorea stationierte Soldat war zuvor fast zwei Monate wegen Körperverletzung in Gewahrsam und sollte in die USA zurückkehren. Nachdem er die Grenzkontrollen passiert hatte, verließ King den Flughafen allerdings wieder, unter dem Vorwand, er habe seinen Reisepass verloren.
Am nächsten Morgen schloss King sich einer Reisegruppe an und brach zu einer zehnstündigen Tour in die Demilitarisierte Zone auf, das schwer gesicherte Grenzgebiet zwischen Nord- und Südkorea. Dort verließ er seine Gruppe und überquerte die Demarkationslinie, die die verfeindeten Staaten voneinander trennt. Augenzeugen zufolge soll der 23-Jährige laut gelacht haben, bevor er nachmittags in Nordkorea verschwand. Möglicherweise hatte er Angst, dass ihn in den USA weitere Disziplinarstrafen erwarten könnten.
Wo King ist, wie es ihm geht, ja, ob er überhaupt noch lebt – all das ist unklar. „Ich mache mir Sorgen um ihn, ehrlich“, sagte vergangene Woche Christine Wormuth, die im US-Verteidigungsministerium für das Personal zuständig ist. Wormuth erinnerte an den Fall des US-Bürgers Otto Warmbier, der 2016 in Nordkorea zu 15 Jahren Arbeitslager verurteilt wurd – und kurz nach seiner Rückkehr in die USA 2017 verstarb. Warmbier war in nordkoreanischer Haft ins Koma gefallen.
Die Kommunikation mit dem Regime von Diktator Kim Jong-un erweist sich als schwierig, denn die USA unterhalten keine Botschaft in Nordkorea. In der Vergangenheit hatte meist die schwedische Vertretung US-Anliegen in Pjöngjang vorgebracht; die Botschaft wurde aber kurz nach Beginn der Corona-Pandemie geschlossen, ebenso wie auch die deutsche Vertretung. Dennoch kommunizieren Vertreter der USA und Nordkoreas regelmäßig über eine Art Hotline, bislang allerdings, ohne dass die Amerikaner etwas zum Schicksal von King erfahren hätten.
Inzwischen hat das zuständige UN-Kommando Gespräche mit Pjöngjang aufgenommen. Generalleutnant Andrew Harrison, der als stellvertretender Befehlshaber der multinationalen Truppe fungiert, sagte: „Unser Hauptanliegen ist das Wohlergehen des Soldaten King.“ Er sprach von einer „sehr schwierigen und komplexen Situation“. Niemand wisse, wie die Geschichte ausgehe.
Die Lage auf der koreanischen Halbinsel ist unterdessen extrem angespannt. Nordkorea feuert seit Tagen ballistische Raketen ins Meer ab, zuletzt in der Nacht von Montag auf Dienstag (Ortszeit), wie die südkoreanische Nachrichtenagentur Yonhap unter Berufung auf das Militär des Landes meldete. UN-Beschlüsse verbieten Nordkorea eigentlich solche Tests.
Die USA und Südkorea reagierten auf die zunehmenden Drohgebärden des Kim-Regimes zuletzt mit einer engeren Zusammenarbeit. Zur Abschreckung des Nordens machte in den vergangenen Tagen erstmals seit 1981 wieder ein nuklear bewaffnetes amerikanisches U-Boot im südkoreanischen Busan Station; am Montag legte zudem ein weiteres Atom-U-Boot im Hafen der Insel Jeju an. Für das Schicksal von Travis King verheißt diese Eskalation nichts Gutes. SVEN HAUBERG