Ein paar Monate lang war der Krieg für die Russen kaum mehr als ein fernes TV-Ereignis, beinahe Fiktion. Als Putins Truppen in Butscha Zivilisten massakrierten, konnte man in Moskau und St. Petersburg noch so tun, als existiere das Elend nicht. Die Zeiten sind vorbei. Dass der Kreml-Herrscher das Einberufungsalter für Reservisten um fünf Jahre erhöht hat, ist nur der jüngste Beleg dafür, dass der Krieg längst auch die Russen betrifft. Die Mobilisierung hunderttausender Reservisten, die Angriffe pro-ukrainischer Russen auf die Region Belgorod, der Aufstand der Wagner-Söldner, Drohnenfeuer auf Moskau, Raketen auf die Krim-Brücke. Die „Spezialoperation“ rückt bedrohlich nahe.
Gäbe es in Russland eine funktionierende Zivilgesellschaft, vielleicht sogar eine echte Opposition, müsste Putin akut um seine Macht fürchten. Aber das repressive System, das jede Anwandlung von Kritik im Keim erstickt, zahlt sich jetzt für ihn aus. Noch. Wahr ist auch, dass er massiv jene Übereinkunft gebrochen hat, die ihn unangreifbar machte. Die Menschen ließen ihn tun, was er wollte, solange er sie aus der Politik heraushielt. Dieser Nichteinmischungspakt ist Geschichte. Das ist kein Grund für falsche Hoffnungen, den großen Volksaufstand wird es nicht geben. Aber die wachsenden Zumutungen und die Erfolglosigkeit des Krieges nagen am Fundament. Auch Putin weiß: Macht erodiert heimlich und langsam.
Marcus.Maeckler@ovb.net