München – An einem Sonntag Mitte Juli kollidierten Politik und Wirklichkeit auf besondere Art. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen war nach Tunesien gereist, um den Migrationsdeal mit der dortigen Regierung einzutüten. Die Bilder, sie mit Präsident Kais Saied, versprachen Aufbruch: Tunis und Brüssel würden gemeinsam die illegale Migration begrenzen, endlich. Zur gleichen Zeit entstanden aber auch Bilder, die Europa nicht gefallen können.
Libysche Grenzschützer retteten an diesem Tag mindestens 190 schwarze Migranten aus dem Wüstengebiet zwischen Libyen und Tunesien, darunter Frauen und Kinder. Sie berichteten, tunesische Sicherheitskräfte hätten sie zuerst entführt und dann dort ausgesetzt, ohne Verpflegung. Human Rights Watch dokumentierte im Juli 1200 solcher Fälle, nicht alle Migranten überlebten. Das Video einer Mutter und ihres Kindes, die leblos im Wüstensand liegen, macht seit Tagen in Sozialen Netzwerken die Runde.
Angesichts dessen darf man sich fragen, mit wem die EU da künftig in Migrationssachen zusammenarbeitet. Die Umstände der Wüsten-Aussetzungen sind zwar (noch) nicht geklärt. Offensichtlich braut sich aber in Tunesien seit einiger Zeit eine Anti-Migranten-Stimmung zusammen, die solche Aktionen begünstigt. Verantwortung dafür trägt maßgeblich jener Mann, dem von der Leyen im Juli so nett die Hand schüttelte.
Kais Saied, Verfassungsjurist und seit vier Jahren Präsident Tunesiens, schürt seit einiger Zeit offensiv Ressentiments. Im Februar sprach er von „Horden irregulärer Migranten“, warf ihnen vor, für Gewalt und Verbrechen verantwortlich zu sein. Vor dem Nationalen Sicherheitsrat erklärte Saied, die Einwanderer seien Teil einer internationalen Verschwörung gegen Tunesien mit dem Ziel, die islamische Kultur zu schwächen. Auch von einem Bevölkerungsaustausch sprach er, ein Klassiker unter den Verschwörungsmythen.
Experten glauben, dahinter stecke Berechnung. Lange habe Saied die Probleme des Landes auf die Opposition schieben können, sagte die Leipziger Tunesien-Expertin Irene Weipert-Fenner dem ZDF. Inzwischen habe er die „Sündenbockkarte gezogen und den Rassismus, der in der tunesischen Gesellschaft schon vorher existierte, geschürt.“
Dass Saied kein Demokrat ist, ist bekannt. Vor zwei Jahren löste er eigenmächtig das Parlament auf, entließ den Regierungschef, regierte fortan per Dekret. Ein Jahr später ließ er über eine neue Verfassung abstimmen, die ihm autoritäre Vollmachten einräumt – er soll sie im Alleingang verfasst haben. Wie willkürlich Saied seither waltet, zeigte sich am Mittwoch. Da entließ der Präsident seine Regierungschefin – ohne Angabe von Gründen.
Das Land habe sich in den letzten Jahren stark verändert, sagte der ehemalige SPD-Politiker Franz Maget, der in Tunis lebte und arbeitete, unlängst unserer Zeitung. Es sei von einem „demokratischen zu einem autoritären Staat“ geworden. An dem Abkommen mit Brüssel habe Saied aber „großes Interesse, weil er dringend Geld braucht“. Mehr als 100 Millionen Euro will die EU dafür zahlen, dass Tunesien Flüchtlingsboote stoppt, die nach Europa ablegen.
So ist es vereinbart, in der EU regt sich aber Kritik. Mehrere Mitgliedstaaten, auch Deutschland, bemängeln den Deal, wie die „Zeit“ unter Berufung auf vertrauliche Dokumente berichtet. Problematisch sei nicht nur das Zustandekommen, sondern auch die tatsache, dass die Zusammenarbeit nicht an humanitäre Standards und das Völkerrecht geknüpft sei. Wie Tunesien künftig mit Migranten umgeht, dürfte auch davon abhängen, wie genau die EU hinsieht. M. MÄCKLER