VON GEORG ANASTASIADIS
Auf leisen Sohlen schleicht die nächste Renteneintritts-debatte heran. Die Deutschen sollen wieder länger arbeiten, verlangt die Wirtschaftsweise Veronika Grimm mit Hinweis auf die steigende Lebenserwartung – und spricht aus, was sich auch viele Politiker insgeheim denken, aber (noch) nicht laut zu sagen trauen. Wie etwa der Kanzler. Er hält wider besseres Wissen trotzig fest an seinem Ampel-Märchen, alles sei prima in Deutschland. Das ist es leider nicht (mehr): Während die Bundesbürger in großer Zahl die von der Merkel-Koalition ersonnenen Frühverrentungsmöglichkeiten nutzen, träumt die umworbene junge Generation von Viertagewoche und Work-Life-Balance. Gleichzeitig gehen der kriselnden Wirtschaft wegen der nachrückenden geburtenschwachen Jahrgänge die Mitarbeiter aus. Wenn alle weniger arbeiten und länger leben und ihre Freizeit genießen wollen, wird sich unser Wohlstand nicht halten lassen. Auch nicht mit Milchmädchenrechnungen wie jener der Arbeitsagentur, die jedes Jahr 400 000 Arbeitskräfte aus dem Ausland holen will.
Olaf Scholz drückt sich nicht nur vor der Debatte um längere Arbeitszeiten. Er hat es überhaupt sträflich versäumt, den Bürgern zu sagen, dass Zeitenwende, demografischer Wandel und Dekarbonisierung einen Preis haben, den irgendwer zu bezahlen hat, und zwar nicht aus einem obskuren „Sondervermögen“. Das satt und träge gewordene Deutschland braucht wieder eine Generalinventur, ein Reformprogramm, wie es vor 20 Jahren Gerhard Schröder mit der Agenda und Münteferings Rentenreform durchgezogen hat, und weitere 20 Jahre davor Helmut Kohl.
Doch noch immer geht kein Ruck durchs Land. Stattdessen gibt es in der Ampel-Regierung Leute, die die Klimawende durch „De-Growth“ meistern wollen, also dem Schrumpfen der Wirtschaft. Zu glauben, die höheren Energierechnungen könnten mit weniger Arbeit und/oder mit gewaltigen schuldenfinanzierten Subventionsprogrammen bezahlt werden, ist eine gefährliche grüne Spinnerei. Ricarda Lang mag es nicht besser wissen, doch der Kanzler sollte es schon.
Georg.Anastasiadis@ovb.net