Der kranke Mann ist zurück

von Redaktion

VON MIKE SCHIER

München – Der „Economist“ mal wieder. Auf seinem neuen Titelbild zeigt das britische Magazin ein grünes Männchen mit Hut, wie man es von Berliner Ampeln kennt. Es marschiert zwar, hat aber einen Ständer mit einem Tropf bei sich. Wie ein Krankenhauspatient. Dazu die Überschrift: „Ist Deutschland erneut der kranke Mann Europas?“

Menschen mit gutem Langzeitgedächtnis kommt das sehr bekannt vor. Im Juni 1999 hatte das Magazin schon einmal ganz ähnlich getitelt – damals ging es um den starren deutschen Arbeitsmarkt, viel zu hohe Sozialleistungen und die Folgen der teuren Wiedervereinigung. Der Ärger über die Berichterstattung war groß, auch in der eben erst gewählten rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD). Aber im Lauf der Monate wuchs die Einsicht über den Reformstau nach der Kohl-Ära – und mündete in der berühmten Agenda-Rede Schröders im Frühjahr 2003, die die deutsche Politik auf Jahre bestimmen sollte.

Heute heißt der Bundeskanzler Olaf Scholz. Auch er ist von der SPD. Und wieder sieht sich das britische Magazin genötigt, Alarm zu schlagen. Diesmal nach der Merkel-Ära. Heute geht es um deutsche „Eigentore“, wobei man sich bei der Fehleranalyse keineswegs nur auf die Ampel-Regierung einschießt.

Um es kurz zu machen: Der deutsche Staat ist zu sparsam, zu wenig innovativ, zu bürokratisch und zu ideologisch, lautet die Analyse der Journalisten, deren Texte von Führungskräften in der ganzen Welt gelesen werden. Deutschland habe soeben „das dritte Quartal der Schrumpfung oder Stagnation erlebt und könnte die einzige große Wirtschaft sein, die 2023 schrumpft“.

Die Schuldenbremse, die den Staat zu verantwortungsvollen Ausgaben zwingen soll, sehen die Beobachter als deutschen Fetisch. „Perverserweise“ habe diese die Regierung in Zeiten von Niedrigzinsen davon abgehalten, wichtige Investitionen zu tätigen. Deshalb gebe es jetzt überfüllte Straßen, eine unpünktliche Bahn und „eine der schwächsten Versorgungsraten mit Breitband in der EU“. Immer noch investiere Deutschland im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt weniger als halb so viel in Informationstechnologie und Digitalisierung wie Amerika und Frankreich.

Auch das Thema Energie ist wichtig: Lange habe sich Deutschland (unter Merkel) zu sehr auf Russland als Energielieferanten verlassen. Umso größer sei nun der Fehler der Grünen, jetzt auf den Atomausstieg zu beharren. Ein „spektakuläres Eigentor“.

Ein wichtiger Punkt in der Kritik-Liste ist auch die Bürokratie, die teils byzantinische Vorschriften erzeuge. Dabei bekommt auch die deutsche Presse ihr Fett weg, die mit ihrer Berichterstattung gerne Stürme im Wasserglas erzeuge. Die dadurch geschürten Ängste würden Politiker dazu veranlassen, mit übertriebenen Gesetzen zu reagieren – mit einer Menge umständlichem Papierkram.

Doch es gibt auch Lob: „Die Regierung von Herrn Scholz investiert endlich kräftig in die Energie-, Verkehrs- und Informationsinfrastruktur. Sie hat schnell alternative Quellen als Ersatz für russisches Gas und Öl aufgebaut und stark auf neue Technologien wie Wasserstoff gesetzt.“ Der „Economist“ will also die Hoffnung nicht fahren lassen, auch wenn seiner Meinung nach nur wenige in der aktuellen Regierung sich des Ausmaßes der Aufgabe bewusst seien.

Vielleicht läuft es ja wie nach dem letzten großen Warnruf. Damals dauerte es sechs Jahre, bis das Magazin – verwundert – öffentlich Abbitte leistete. Im August 2005 berichtete die Titelgeschichte unter der Überschrift „Deutschlands überraschende Wirtschaft“ über die erstaunliche Auferstehung und Reformfähigkeit des einst kranken Landes. Auf dem Cover: der deutsche Adler, der die Muskeln spielen lässt.

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