München – Als die Weltgesundheitsorganisation WHO im Mai zur Jahrestagung nach Genf bat, war das zunächst mal ein Moment der Erleichterung. Kurz zuvor hatte die WHO neben den Affenpocken auch bei der Corona-Pandemie den internationalen Gesundheitsnotstand, die höchste Alarmstufe, aufgehoben. Entspannt ging es in Genf trotzdem nicht zu. Im globalen Gesundheitswesen gilt die gleiche Devise wie im Fußball: Nach der Pandemie ist vor der Pandemie.
Um beim nächsten Mal besser vorbereitet zu sein auf eine internationale Gesundheitskrise, wollen die 194 Mitgliedsländer möglichst bald die Voraussetzungen schaffen. Im Zentrum steht ein Pandemievertrag, der die Zusammenarbeit regeln und ein „historischer Vertrag“ werden soll, wie WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus in Genf sagte.
Er soll für eine bessere Koordinierung des internationalen Kampfes gegen Pandemien sorgen, eine gerechtere Verteilung von Schutzmaterial und nicht zuletzt eine angemessene finanzielle Ausstattung. Die Verbesserung von Frühwarnsystemen steht ebenso auf der Agenda wie eine Straffung der Abläufe in Forschung und Industrie, um schneller an Impfstoffe, Arzneimittel und Schutzausrüstung zu kommen. Eingeleitet wurde der Vertragsprozess Ende 2021, abgeschlossen sein soll er Mitte 2024.
Dass man aus dem Umgang mit Corona viel lernen kann, ist unstrittig. Die Versäumnisse begannen bei den bis heute nicht vollständig geklärten Umständen des Ausbruchs, erstreckten sich über Notmaßnahmen, von denen einige im Nachhinein von Gerichten als unverhältnismäßig kassiert wurden, und reichten bis zur Verteilung von Schutzmaterial. Während sich das Virus vor allem im globalen Süden lange ungehindert ausbreiten konnte, wurden in den reichen Industrieländern wertvolle Impfstoffe gehortet und am Ende vieltausendfach vernichtet. „Zwischen und innerhalb von Staaten gibt es nach wie vor riesige Unterschiede beim Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen“, beklagt Ghebreyesus.
Das alles soll der Pandemievertrag künftig möglichst verhindern. Und doch entzündet sich seit der Tagung im Mai an diesem Papier ein Streit, der Wunden aus der Pandemie aufreißt. Querdenker und Verschwörungsgläubige wittern hinter dem Vertrag den Versuch, die Souveränität der Staaten auszuhöhlen und die Demokratie abzuschaffen. Nicht nur in den Sozialen Medien agieren sie gegen den WHO-Plan. Viele Bundestagsabgeordnete erhalten seit Monaten entsprechende Briefe, oft mit identischen Textbausteinen und basierend auf alternativen und rechtskonservativen Medien und Blogs.
Der FDP-Abgeordnete Konstantin Kuhle beklagte eine „Angstkampagne zulasten von globaler Kooperation und Multilateralismus“. Im Kern wird vor allem der Vorwurf erhoben, die WHO könne auf der Basis eines künftigen Vertrages nationale Parlamente überstimmen, zum Beispiel das Grundgesetz aufheben und Maßnahmen bis hin zu Zwangsimpfungen oder der Entsendung von UN-Truppen verhängen.
Dass es so weit gar nicht kommen kann, dafür sorgt die Gesundheitsorganisation selbst. Ihre eigenen Vorschriften verpflichten die WHO zur internationalen Zusammenarbeit und – im Notfall – dem Ausrufen einer Pandemie. Die Entscheidungsgewalt über einzelne Maßnahmen liegt dann bei den einzelnen Mitgliedsländern – wie in der Corona-Zeit immer wieder zu sehen war. Ausdrücklich weisen die WHO-Regeln darauf hin, dass sich die Anwendung im Rahmen der nationalen Verfassung bewegen muss.
Eine mögliche Impfpflicht, Horrorszenario vieler Querdenker, wird in den Entwürfen eines Pandemievertrags mit keinem Wort erwähnt. Im Gegenteil: Bereits während der Corona-Pandemie warnte die WHO Ende 2021 vor einem solchen Schritt. Dieser sei nur denkbar, wenn alle anderen Optionen ausgeschöpft seien. MARC BEYER