Ein vermisster Kanzler im Schlabberpulli

von Redaktion

Autor Stephan Lamby hat Scholz, Baerbock, Habeck und Co. seit Regierungsbeginn begleitet

München – Als Anfang Februar 2022 langsam klar wird, dass es sich bei dem Aufmarsch der russischen Truppen nahe der ukrainischen Grenze nicht um eine militärische Übung handelt, sucht die deutsche Bevölkerung nach ihrem Kanzler. Auf Twitter trendet der Hashtag #WoistScholz. Es wird gespottet, der SPD-Kanzler gelte als vermisst. Dann entscheidet sich Scholz, seine Strategie der Nicht-Kommunikation zu ändern – und steigt in einen Regierungsflieger nach Washington, wo er sich mit Jeans und einem etwas schlabbrigen Pullover breit grinsend vor mitreisende Journalisten stellt.

„Was will er uns mit diesem Kleidungswechsel sagen? Dass er seine Juso-Zeiten nicht vergessen hat? Dass er an Helmut Kohl in Strickjacke mit Michail Gorbatschow an einem kaukasischen Wildbach denkt?“, schreibt der Autor und Dokumentarfilmer Stephan Lamby, der Scholz auf dieser Reise begleitet hat, in seinem neuen Buch „Ernstfall. Regieren in Zeiten des Krieges“.

Lamby hat den Kanzler und mehrere Minister seit Antritt der Ampelregierung eng begleitet. Angefangen im Dezember 2021, als noch Karl Lauterbach als einer der Hauptprotagonisten des deutschen Polit-Programms galt. „Als ich ihn treffe, wirkt er überhaupt nicht, als wenn er gerade auf der obersten Sprosse seiner Karriereleiter angekommen wäre“, erinnert sich Lamby an eine Begegnung mit dem damals frisch gebackenen Gesundheitsminister. „Corona drückt mächtig auf die Stimmung. Die Kriegsgefahr ist höchstens ein Nebenthema.“

Das Buch sollte eigentlich ein Porträt der wichtigsten Ampel-Akteure werden. Lamby wurde für seine ARD-Dokumentationen vielfach ausgezeichnet, zuletzt hatte er ein Buch über den Dreikampf um den Kanzlerstuhl geschrieben. Dann wurde „Ernstfall“ zum Krimi. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine stürzt auch die neue Regierung in eine internationale Krise. Lamby folgt Haupt-Akteuren wie Scholz, Robert Habeck, Annalena Baerbock und Christian Lindner quer um die Welt – nach Washington, Peking und Mali ebenso wie in interne Besprechungen in Berlin.

„Dieses Kabinett ist mit guten Absichten gestartet“, resümiert er. „Die 17 Männer und Frauen haben ihr politisches Leben lang darauf hingearbeitet, an die Macht zu kommen und Entscheidungen gemäß ihren Überzeugungen zu treffen.“ Dann hätten sie plötzlich innerhalb weniger Wochen umdenken müssen. Auf 400 Seiten analysiert Lamby, wie gut ihnen das gelungen ist.

Zu seinen Recherchen erscheint am 11. September auch die Doku „Ernstfall – Regieren am Limit“ im Ersten. Es geht weniger um neue Erkenntnisse, vielmehr um interne Streitereien und ungewohnte Einblicke in die Gefühle der Polit-Prominenz Deutschlands. Allein Scholz habe er für das Projekt sechs Mal interviewt, erzählt Lamby im „Stern“. „Ich glaube, es gibt zwei Olaf Scholz“, sagt er. „Den in der aufgeregten Öffentlichkeit und den im ruhigen Gespräch. Die sind völlig unterschiedlich.“  kab

Stephan Lamby

„Ernstfall. Regieren in Zeiten des Krieges“, C.H. Beck, 400 Seiten, 26,90 Euro.

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