VON MIKE SCHIER
Am Sonntagvormittag wirkte es so, als sei die einst so harmonische Bayern-Koalition auf völlig verschiedenen Umlaufbahnen unterwegs: Als der große Staatsschauspieler Markus Söder im Prinz-Carl-Palais mit ernster Miene vor den Kameras stand und über die tiefe Reue des Hubert Aiwanger referierte, hielt eben dieser Aiwanger 15 Kilometer weiter die nächste Bierzeltrede. Man habe versucht, ihn zu „ertränken“, behauptete er. Aber er habe „ein reines Gewissen“. Tiefe Reue? Söder sagte: „Einfach Schwamm drüber und weiter so, wäre der falsche Weg.“ Und Aiwanger twitterte: „Wir müssen jetzt wieder zur Tagesarbeit für unser Land zurückkehren.“
Ganz Bayern hat seinen beiden wichtigsten Koalitionspolitikern eine Woche lang beim politischen Fingerhakeln zusehen können. Beide zogen hart. Mit großer Ausdauer, es tat richtig weh. Söder versuchte, Aiwanger mit seinen 25 Fragen am Dienstag zum Nachgeben zu veranlassen. Der antwortete erst mal nicht, schob aber am Donnerstag eine halbherzige Entschuldigung ein. Söder reichte das nicht, er drängte am Freitag auf rasche Antworten. Der CSU-Chef hoffte, dass sich im Lauf der Tage eine eindeutige Lage ergeben würde. Und dass der FW-Vorsitzende irgendwann weich werden würde. Aber Söder unterschätzte einerseits dessen niederbayerische Sturheit und andererseits die Geschlossenheit der Freien Wähler. Aiwanger dachte nie daran nachzugeben. Obwohl er selbst zwischenzeitlich schon halb überm Tisch lag, hat er das Fingerhakeln mit Söder gewonnen.
Seit Tagen stand der CSU-Chef vor zwei schlechten Optionen: Aiwanger entlassen und damit den Unmut von Teilen der eigenen Basis in Kauf zu nehmen – die Eindrücke aus den Bierzelten sprachen eine eindeutige Sprache? Oder an Aiwanger festhalten und dafür einen medialen Sturm und die Verärgerung vieler Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft zu riskieren? Am Ende gewann das Bierzelt. Das war fast zu erwarten: Söder hat seine Politik immer an der Mehrheit ausgerichtet. Erinnert sei an Corona: Erst gab er – als die Stimmung danach war – den striktesten Zusperrer. Als die Bevölkerung müde wurde, mutierte er zum mutigen Aufsperrer.
Aber ist das immer der richtige Weg? Selbst in Bayern findet Politik nicht nur im Bierzelt statt, wo man so prima über Wokeness schimpfen kann. Der verantwortungsvolle Umgang mit dem Holocaust hat damit nichts zu tun. Das fällt nicht in die Kategorie „Das wird man ja noch sagen dürfen“. Aiwanger hätte viel von seinem Rufschaden retten können, hätte er sich seit den Enthüllungen, die auf dünner Beweislage fußen, klüger verhalten. So bleiben Fragezeichen, die den stellvertretenden Ministerpräsidenten begleiten, wenn er künftig mit internationalen Firmen verkehrt, an Gedenkfeiern teilnimmt oder Auslandsreisen unternimmt. Das schadet Bayern.
Noch immer wirken seine Einlassungen wenig glaubwürdig. Deshalb birgt die Entscheidung auch Gefahren für Söder. Kurzfristig mag er sich viel Ärger in den ländlichen Regionen erspart haben. Aber für alle Ambitionen in Richtung Kanzleramt war die vergangene Woche verheerend. Schon München ist weit weg von den Bierzelten auf dem Land. Im Rest Deutschlands aber darf Söder nicht auf Verständnis hoffen. Erst recht nicht, wenn er weiter mit Aiwanger regiert.
Mike.Schier@ovb.net