Eine Frage der Reserven

von Redaktion

VON A. STEIN, A. BALLIN UND D. GODDER

Moskau/Kiew – Nach mehr als drei Monate langen Kämpfen haben sich die ukrainischen Truppen im Süden des Landes durch die erste und angeblich am stärksten mit Minenfeldern, Gräben und Feuernestern befestigte Verteidigungslinie der Russen gekämpft. Nach US-Generalstabschef Mark Milley verkündete den Durchbruch am Samstag auch der Kommandierende des entscheidenden Frontabschnitts, Olexander Tarnawskyj. Einzelne Frontberichte sprechen von einer schweren Lage für Moskau. Nun soll sich Russland Medienberichten zufolge sogar in Gesprächen mit dem sonst international isolierten Nordkorea um Nachschub an Waffen und Munition bemühen; der Kreml schweigt dazu. Die USA gehen davon aus, dass Nordkorea erhebliche Mengen an Munition liefern könnte.

Seit dem Hissen der ukrainischen Flagge im Dorf Robotyne pünktlich zum Unabhängigkeitstag am 24. August ist es freilich auch für Kiews Truppen kaum vorangegangen. Mit einem Vormarsch bis ans Meer hofft Kiew, Moskau die Landverbindung zur seit bereits 2014 besetzten Schwarzmeer-Halbinsel Krim zu verwehren.

Kommandeur Tarnawskyj zufolge gehen Kiews Kämpfer erfolgreich gegen Moskaus Militär vor. „Im Zentrum der Offensive schließen wir jetzt die Zerstörung der feindlichen Einheiten ab, die den Rückzug der russischen Truppen hinter ihre zweite Verteidigungslinie decken“, zitierte der britische „Guardian“ den General. Moskau sei daher gezwungen, Reserven selbst aus Russland an die brüchigen Frontabschnitte zu verlegen. „Früher oder später werden den Russen die besten Soldaten ausgehen“, betonte Tarnawskyj. Damit könne die ukrainische Armee nach ihrem bisher bescheidenen Vorrücken südlich von Orichiw in eine Tiefe und Breite von etwa zehn Kilometern nun „öfter und schneller“ angreifen.

Das US-Institut for the Study of the War (ISW) ist zurückhaltender bei seiner Lagebewertung. Zwar habe die leichte Infanterie die Panzerwälle überwunden, doch so lange noch kein schweres Gerät in der Gegend sei, wollen die Experten nicht von Durchbruch sprechen.

Gleichzeitig wurde der geringe Raumgewinn mit durchaus hohen Verlusten erkauft, wie selbst Tarnawskyj einräumte. „Je näher der Sieg rückt, um so härter wird es. Warum? Weil wir leider die stärksten und besten (Soldaten) verlieren“, sagte der Brigadegeneral. Wie viele der ursprünglich für die Offensive ausgebildeten zwölf Brigaden mit geschätzt 60 000 Mann derzeit noch kampffähig sind, bleibt dabei unbekannt.

Dabei ist die Anzahl der Reserven nach Ansicht von Franz-Stefan Gady, einem Analysten am Institute for International Studies in London, für den weiteren Verlauf der ukrainischen Offensive entscheidend. Russlands Verteidigungslinie sei nie dazu gedacht gewesen, die ukrainischen Truppen zu stoppen, sondern sie abzunutzen, schrieb der Experte im Sozialen Netzwerk X (vormals Twitter). „Die Frage war immer…, ob die Ukraine noch genügend Reserven haben wird, um in den Bewegungskrieg überzugehen und tief in den Raum zu stoßen.“

Um die Verluste zukünftig auszugleichen, erweiterte Kiew kürzlich den Kreis der Wehrtauglichen um Hepatitis- und HIV-Infizierte sowie Männer mit leichten psychischen und neurotischen Störungen. Andere Gruppen wie Studenten über 30 sollen demnächst hinzukommen.

Glaubt man den russischen Verlautbarungen, so hat Kiew bereits verloren. Einen Durchbruch bestreitet Moskau. Das russische Militär ist allerdings schon mehrfach mit geschönten Lageberichten aufgefallen. Frontberichte zeugen davon, dass die Lage für Moskau schwierig ist. So klagen Feldkommandeure zunehmend über Munitionsmangel und ein zunehmendes Ungleichgewicht bei der Artillerie zugunsten der Ukraine, obwohl zu Beginn des Kriegs Russland hier ein Übergewicht hatte.

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