„Die Bürger sind den Stillstand leid“

von Redaktion

VON M. SCHIER, U. STEINKOHL UND M. FISCHER

Berlin – Olaf Scholz hat einen dicken Stapel Papier dabei, als er gestern Vormittag ans Rednerpult des Bundestags tritt. Der Kanzler hat etwas vorbereitet. Er will heute Schlagzeilen schreiben. Aber als er zu reden beginnt, muss erst einmal etwas anderes raus. Friedrich Merz, der als Oppositionsführer die Aussprache über den Kanzleretat beginnen durfte, hat ihn einfach zu sehr geärgert. Scholz, noch immer mit Augenklappe, startet den Gegenangriff. Prägnant, pointiert, zupackend – so kennt man den Kanzler sonst gar nicht. Die Ampel-Abgeordneten jubeln. Und Merz ist das Opfer. „Das musste jetzt sein“, schließt Scholz. Dabei will er Merz doch eine neue Zusammenarbeit anbieten. Eigentlich.

Das scheint dem Kanzler erst wieder einzufallen, als er sich dann doch dem Manuskript zuwendet. Die Bürger wollten kein „Schattenboxen hier im Bundestag. Sie wollen Orientierung, mutige Kompromisse, zupackende Arbeit“, sagt er etwas überraschend. „Das ist der Anspruch an uns alle.“ An die Regierungsparteien, die in den vergangenen Monaten „zu viel gestritten“ hätten, aber auch an die demokratische Opposition. Es wird klar: Scholz plädiert für einen Schulterschluss gegen die erstarkte AfD, die der auf Krawall gebürstete Kanzler als „Abbruchkommando für unser Land“ bezeichnet.

„Zu viel ist den vergangenen Jahren auf lange Bank geschoben worden“, sagt Scholz. Er schimpft über die verschlissene Infrastruktur. Auch der miserable Zustand der Bundeswehr sei unter einer CDU-geführten Bundesregierung entstanden. Auf Zwischenrufe, er selbst sei Teil solcher Regierungen gewesen, ruft er zurück: „Never forget – Sie waren das.“ Es sei versäumt worden, in die erneuerbaren Energien einzusteigen. Und so weiter.

Der Kanzler ist in Fahrt. Er war viel unterwegs in den Sommermonaten. Und überall habe man ihm die gleiche Botschaft mitgegeben. Es müsse schneller werden, unkomplizierter, weniger bürokratisch. „In der Zeit, in der wir über die Verlängerung einer einzigen U-Bahn-Linie sprechen, werden in anderen Ländern ganze Strecken gebaut. Die Bürgerinnen und Bürger sind diesen Stillstand leid – und ich bin es auch.“ Als positives Beispiel führt er das Deutschlandticket an, das den öffentlichen Nahverkehr attraktiver gemacht habe.

In vier Bereichen will der Kanzler nun gegensteuern:

. Genehmigungsverfahren sollen beschleunigt werden, damit zum Beispiel Baugenehmigungen einfacher erteilt oder Masten fürs schnelle mobile Internet problemlos errichtet werden können.

. Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft sollen gestärkt werden. Unter anderem sollen dazu die bereits vom Kabinett beschlossenen Steuererleichterungen für Unternehmen im Umfang von 32 Milliarden Euro umgesetzt, aber auch die Gründung von Start-up-Unternehmen erleichtert werden.

. Die Verwaltung soll weiter digitalisiert werden. Bis Ende 2024 sollen wichtige Dienstleistungen wie Anträge auf einen neuen Führerschein oder Personalausweis oder das Eltern- und Bürgergeld „durchgängig“ online möglich sein.

. Die Einwanderung von Fachkräften aus dem Ausland soll weiter vorangetrieben werden, unter anderem durch beschleunigte Verfahren. Gleichzeitig soll „irreguläre“ Einwanderung besser gesteuert und Abschiebungen sollen schneller durchgeführt werden.

Die Ziele sind nicht neu. Neu ist aber, dass Scholz nun ein breites Bündnis zur Umsetzung sucht. Sein Angebot richtet sich an die 16 Regierungschefs der Länder, an die Landräte, Bürgermeister in der ganzen Republik. Es richtet sich auch an die „demokratische Opposition“. Damit meint der Kanzler alle Oppositionsparteien außer der AfD. Im Bundestag sind das CDU, CSU und Linke. Scholz nennt auch Merz direkt – der Streit von eben wirkt fast schon vergessen.

Unklar bleibt allerdings, wie es nun weitergeht. Wie wird der Pakt organisiert? Ist der nächste Schritt ein Deutschland-Gipfel? Der Kanzler wird das Prozedere noch erklären müssen.

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